Ach ja, Weihnachten ist die schöne Zeit des Schenkens. Das alljährliche Paradies für Schenktalente. Aber für viele auch Stress oder zumindest Unwohlsein. Denn Schenken ist eine menschliche Handlung voller Tücken. Im Bundesgesetzbuch klingt es noch einfach: Eine Schenkung ist eine Zuwendung, durch die jemand aus seinem Vermögen einen anderen bereichert, und zwar unentgeltlich. Es kostet den Beschenkten also nichts? Weit gefehlt.
Ein Geschenk enthält immer eine mehr oder weniger geheime soziale Botschaft.
Als ein Großmeister des Nachdenkens über das Schenken gilt der französische Soziologe und Anthropologe Marcel Mauss. Vor fast hundert Jahren erschien sein Grundlagenwerk „Essai sur le don“ (deutsche Ausgabe „Die Gabe“), in dem er in bester Wissenschaftsmanier, nämlich anhand umfangreicher vergleichender Untersuchungen den Gabentausch archaischer Stammesgesellschaften im Südpazifik und in Nordwestamerika studiert und den Zusammenhang des Schenkens mit der gesellschaftlichen Ordnung darlegt.
Merke nach Mauss: Die Gabe ist niemals rein!
Schenken ist demnach ein Konstrukt aus Geben, Empfangen und immer irgendeiner Form der Gegengabe. Es kostet also doch etwas. Man muss etwas zurückgeben und mal ehrlich: Selbst von den unschuldigsten Beschenkten, den Kindern, werden wenigstens Freude und ein Danke als Gegengabe erwartet. Fortgeschrittene kindliche Empfänger revanchieren sich sogar mit Selbstgebastelten oder -gemaltem. So lernen wir es von klein auf und für die meisten fühlt sich das richtig an. Oder manchmal eben irgendwie falsch.
Die Frage ist nämlich bei jedem Geschenk: Was da wohl drinnen ist? Schauen wir doch mal genauer rein.
Was da wohl drinnen ist – Kapitel eins: Zusammenhalt
Mauss beschreibt unter anderem die Geschenketausch-Rituale indigener Insel-Bewohner im Südpazifik. Er bezieht sich auf den polnischen Anthropologen Bronislaw Malinowski, der als teilnehmender Beobachter wusste, wovon er redet: Er lebte lange Zeit auf den Trobriand-Inseln in Melanesien.
Der Kula:
Zwischen den kreisförmig angeordneten Inseln der Ureinwohner herrschte reger Bootsverkehr. Neben dem Handel mit Waren, die bewertet und verbraucht wurden, gab es auch einen Geschenkeaustausch, dessen Sinn uns nicht sofort erschließt: den Kula. Von Insel zu Insel wurden nur zwei bestimmte Arten von Muschelschmuck ausgetauscht: Ketten im Uhrzeigersinn, Armbänder gegen den Uhrzeigersinn. Wer eine Kette gegeben hat, bekommt einen Armreif und umgekehrt. Diese Gabe wird aber nicht behalten, sondern erneut weitergegeben. Nach einem „Umlauf“ um die Inselgruppe beginnt es von Neuem. Es entsteht ein Geben und Nehmen, das für langfristig friedvolle soziale Beziehungen sorgt.
Das ritualisierte Schenken im Kula-Tausch verkörpert die Magie des Schenkens: Schenkende und Empfänger verbindet ein unsichtbares, aber mächtiges soziales Band. Im Kula gibt es keinen Konflikt über Art oder Wert des Geschenks. Das Geschenk ist immer eine gute Gabe.
Dieses Gefühl, ein Geschenk sowohl nach Anstand und Sitte anzunehmen, aber auch sich revanchieren zu wollen – leben wir als gesellschaftlich integrierte Wesen nicht alle im Kula-Ring?
Leider ist bei uns der weihnachtliche Geschenketausch wesentlich komplizierter als der Durchlauf von Muschelarmbändern und -ketten. Wir haben schon alles, uns fällt nichts ein, dieses ist zu klein, jenes zu groß. und besorgen muss ich es auch noch. Daher herrscht in manchen Familien die sachliche Devise:
Wir schenken uns nichts.
Aber Vorsicht: Das Gefühl menschlicher Wärme, das soziale Band des Schenkens verschwindet. Vielleicht gibt es auch das Band des Nichtschenkens, aber die Sache hat einen Haken: Insgeheim fühlt sich der eine oder andere unwohl, denn er spürt, dass man eigentlich aus dem friedenstiftenden Kula-Ring nicht aussteigen sollte. Und so geschieht‘s, dass einer doch ein Geschenk aus der Tasche zaubert und der mottotreue nichtschenkende Empfänger keine Gegengabe hat. Es entstehen doch wieder Gefühle, aber gewiss keine guten.
Nach den Erzählungen unserer Altvorderen gab es in der „schlechten Zeit“ zwischen all den Habenichtsen auch eine spezielle Art des Schenkens: Mitgebrachte Präsente wurden nicht etwa konsumiert, sondern feinsäuberlich aufbewahrt und bei nächster Gelegenheit weitergeschenkt. Der Nächste machte es genauso, der Übernächste auch. Da konnte es schon mal passieren, dass einer sein eigenes Geschenk wieder in den Händen hielt. Der Kula der Nachkriegszeit.
Eine mögliche Botschaft des Schenkens ist zudem der Ausdruck der Solidarität. Das gilt in der Familie – junge Eltern werden unterstützt – oder auf der großen Ebene – ein Staat in der Krise erhält Zuwendungen von Regierungen anderer Staaten. Wir sind nicht naiv. Auch hier wird stets die Gegengabe erwartet: Bei Geschenken an die lieben Kleinen wenigstens etwas wohlwollende Zurkenntnisnahme. Beim Staat erwartet man politische Gewogenheit und diplomatische Freundschaft.
Hiermit nähern wir uns bereits den dunkleren Botschaften einer Gabe, dem strategischen Erwarten der Gegengabe.
Was da wohl drinnen ist – Kapitel zwei: Bestechung
Weit in der Vergangenheit finden wir die Opfergabe an die Götter, damit diese dem Gebenden ein gutes Schicksal liefern (Schutz, günstiges Wetter, Kriegsglück etc.).
Bei politischen Geschenken von Land zu Land geht es eben nicht nur um diplomatische Freundschaft, sondern um Einfluss. „Oh, wie aufmerksam“ dachte wohl die österreichische Außenministerin, als sie die Juwelen eines russischen Regierungschefs annahm, vor dem sie auch gerne mal artig knickste. Es ging offenbar glimpflich aus: Ministerin nicht mehr im Amt, Saphire im Wiener Staatstresor.
Die Einladung für den Journalisten, die Luxusreise zum Kongress für den Arzt: Nein, diese Gaben sind ganz und gar nicht rein. Und wer dabei Assoziationen zu dem Geschenke- und Leistungstausch des Amici-Systems – eine Hand wäscht die andere – bekommt, liegt vermutlich richtig. Auch „Gesellschaften“ wie mafiöse Organisationen beruhen auf einer Art Kula-System der Gegenseitigkeit. Also Vorsicht vor dem unmoralischen Angebot. Aus solchen Kula-Ringen kommt man – wenn überhaupt – selten unbeschädigt raus.
Was da wohl drinnen ist – Kapitel drei: Überlegenheit
Schenken von oben herab kann zunächst ganz harmlos aussehen wie das philosophische Buch, überreicht mit dem Hinweis, dass man selbst von dem Autor nicht genug lesen kann. Der Schenkende könnte gleich offen sagen: „Ich bin schlauer als du.“ Doch rein materiell betrachtet: Wer hat, der kann doch auch geben. Und der großzügige Spender, Gastgeber, Schenkende erhält doch auch Gegengaben wie Prestige und Respekt. Schließlich kann Generosität ein Schritt in Richtung Gerechtigkeit sein.
Bei wirtschaftlicher Ungleichheit zwischen Geber und Empfänger ist ein generöses Geschenk also durchaus willkommen und angemessen, oder? Kommt darauf an. Der Beschenkte könnte sich beschämt fühlen. Das hat der wohlsituierte Protagonist eines Prosagedichts von Charles Baudelaire berücksichtigt. Statt einem Bettler Almosen zu geben, schlägt er auf den Unglücklichen ein, bis dieser endlich ordentlich zurückprügelt. Erst dann empfindet der reiche Geber die Würde des armen Empfängers wiederhergestellt und überreicht dem „Gleichgestellten“ die Geldgabe. Zugegeben, das ist ein sehr männlicher Ansatz. Belassen wir es lieber beim Gedankenexperiment.
West-Ost-Geschenke
Wir Ältere erinnern uns noch an die „Westpakete“, die Bundesrepublikaner in den Sechzigerjahren an Familien in Ostdeutschland geschickt haben. Die West-Ost-Post – politisch gewollt und öffentlich unterstützt – mit den schönen Sachen des kapitalistischen Wirtschaftssystems, dem kräftigen Westkaffee, der leckeren Westschokolade, kam immer mit Beigeschmack an: Liebe Leute drüben, Ihr habt es nicht geschafft. Ein System der Gegengabe war nicht vorgesehen. Es war wohl kaum jemand bewusst, dass sich die Ost-Empfänger mit einer materiellen Revanche in Richtung Westen – zum Beispiel mit einem Paket voll köstlicher Spreewaldgurken – womöglich viel besser gefühlt hätten.
Was da wohl drinnen ist – Kapitel vier: Macht
Von der mitgeschenkten Botschaft der Überlegenheit geht es fließend über in das Schenken als Ausdruck von Macht.
Das funktioniert auf einer individuellen Ebene zum Beispiel bei willkürlich entschiedenen familiären Nachfolgeregungen oder Erbverteilungen. Doch zurück zu den Studien über die Gabe bei Marcel Mauss: Der Anthropologe studierte auch indigene Stämme an der Westküste Nordamerikas, zum Beispiel das kriegerische Volk der Kwakiutl. Wir erfahren, wie rituelles Schenken bei archaischen Gesellschaften nicht nur friedvolle Bande, sondern auch ausufernde Machtkämpfe bestimmte. Potlatch heißt der systematische Geschenkeaustausch bei diesen indianischen First Nations. Ein Potlatch-Fest besteht nicht aus einem friedfertigen kreisförmigen Geben und Weitergeben wie beim Kula, sondern aus wahren Geschenkeschlachten. Assoziationen an manchen modernen Wohlstands-Gabentisch sind möglich. Merry Potlatch sozusagen.
Der Potlatch:
Beim Potlatch-Treffen – nicht zu verwechseln mit unserer Potluck-Party – versuchten die Stämme, sich gegenseitig mit Geschenken zu übertreffen, um ihren Reichtum und ihre soziale Machtstellung darzulegen. Bei ekstatischen Festen wurden die Gaben nicht geehrt wie beim Kula der Melanesier. Vielmehr ging es in geschenkekämpferischer Absicht darum, den empfangenen Reichtum wieder zu vernichten (will sagen: wir sind so reich, eure Geschenke haben wir nicht nötig). Die Häuptlinge ließen wertvolles Kupfer und Lebensmittel ins Meer werfen oder sogar Sklaven töten.
Bei den Zerstörungsorgien ging es auch um die Verehrung der Ahnen und die allgemeine Weltordnung. Die Indigenen hatten das große Ganze im Auge und teilten keineswegs die westliche Interpretation als Verschwendung. In der Folge wurden kaum Reichtümer angehäuft, aber manche prestigeträchtige Schenkende und Geschenkevernichter ruiniert.
In unserer Gesellschaft sind es eher Mechanismen des Marktes, die Überfluss vernichten. Man denke an nicht verkaufte Lebensmittel auf dem Müll, Dekadenz des Wohlstands und Übersättigung mit Waren, die anderswo fehlen.
Vor dem Hintergrund des unguten Schenkwettbewerbs kann man sich übrigens auch eine Meinung zum Überschenken bei Kindergeburtstagen bilden. Die kleinen Gäste bringen heutzutage nicht nur Geschenke für das Geburtstagskind mit, sondern erhalten zum Abschied selbst ein Geschenk. Diese Art Kinder-Potlatch gab es in meiner Baby-Boomer-Kindheit nicht, mitgegeben wurde allenfalls übriggebliebene Torte. Da ging es um Verwendung, nicht Verschwendung.
Was da wohl drinnen ist – Kapitel fünf: Empathielosigkeit
Man schenkt, was einem selbst gefällt (das war nur bei meiner Katze zu entschuldigen, die mir ab und zu eine tote Maus geschenkt hat) oder man schenkt einfach irgendwas. Ein schönes Beispiel für ein Geschenk ohne Rücksicht auf den Beschenkten ist das Ohr des Vincent van Gogh. Er soll sein Ohr nicht nur abgeschnitten, sondern auch seiner Lieblings-Prostituierten geschenkt haben, die nach dem Blick auf die blutverschmierte Gabe in Ohnmacht fiel. Er wollte der Überforderten möglicherweise etwas sehr Persönliches schenken, aber hätte er ihr nicht einfach etwas basteln oder – nun ja – malen können?
Was lernen wir? Egal, wie groß oder klein, bescheiden oder generös das Geschenk ist, wer echte Freude bereiten will, versetze sich in den Beschenkten, so gut es geht.
Was da wohl drinnen ist – Kapitel sechs: Feindschaft
Es muss nicht das vergiftete Hochzeitsgeschenk der Medea (dazu unten mehr) sein. Aber dank der tief verankerten gesellschaftlichen Pflicht, dass Geschenke angenommen werden, kann man mit finsteren Hintergedanken etwas völlig Unangemessenes oder Unerwünschtes schenken. Hab ich auch schon gemacht. Als mir mein Jugendfreund den Laufpass gegeben hatte, schenkte ich seiner von mir in Sippenhaft genommenen Familie zum Abschied das häßlichste Geschenk, das ich finden konnte: ein Strohblumengesteck in einem Porzellankrug mit Sprung (Verletzung!). Armselig, aber ich war jung und brauchte das.
Das Rache-Geschenk
Das miese Geschenk schenkt man also zum Beispiel aus Rache. Mehr geht nicht als bei der mythologische Gestalt der Hohepriesterin Medea. Sie hatte ihren Clan in Kolchis verlassen, um Jason und seinen Argonauten zu helfen, das Goldene Vlies zu stehlen. Und Jason hatte nichts Besseres zu tun, als nach zehn Jahren Ehe Medea zu verstoßen, um die Königstochter Kreusa zu heiraten. Medea schenkte der Rivalin ein verzaubertes Braut-Outfit, das die Trägerin nach dem Anziehen bei lebendigem Leib verbrannte. Dabei zeigt sich auch, dass beim miesen Schenken eine gute Story wichtig ist, damit der Empfänger nicht skeptisch wird. Medea behauptet, das Kleid sei ein Geschenk ihres Großvaters, und der war kein Geringerer als der Sonnengott Helios. Wer kann dazu schon nein sagen?
Das Danaergeschenk
Eine tolle Story hat auch die Trojaner veranlasst, den absoluten Klassiker des miesen Geschenks anzunehmen. Ein Grieche namens Sinon gab sich als von den eigenen Leuten verfolgt aus und erklärte, dass das große Holzpferd da draußen vor der Stadt eine Gabe für Athene ist. Wer es ihr weiht, genießt ihren göttlichen Schutz. Also hörten die Trojaner weder auf die Warnungen ihrer seherischen Königstochter Kassandra noch auf ihren klugen Priester Laokoon („Ich fürchte die Danaer, auch wenn sie Geschenke bringen.“). Danaer war die Bezeichnung für Griechen, daher wird ein mieses Geschenk auch Danaergeschenk genannt. Der Rest ist allgemein bekannt: Tor auf, Pferd rein, Tor zu. Die eingeschmuggelten Griechen verließen des Nachts den Pferdebauch und öffneten die Tore fürs Heer. Ende von Troja.
Was da wohl drinnen ist – Kapitel sieben: Die Absicht, etwas loszuwerden
Man möchte mal ausmisten und gleichzeitig andere beglücken. Beim öffentlichen Bücherschrank eigentlich eine schöne Kula-Idee, sofern der Gebende auch wieder ein Buch mitnimmt. Unschön wird es allerdings, wenn der Geber seinen überflüssigen Bestand vor den vollen Schrank kippt, wo die Bücher im Regen aufs Ekligste aufweichen. Wann ist abgelegtes Zeug ein Geschenk? Wenn es noch jemand brauchen kann. Wenn nicht, ist es Müll. Auch in Afrika
Was da wohl drinnen ist – Kapitel acht: Betrug
Heißbegehrt, aber heiße Luft: Mit nur vermeintlich erstrebenswerten Gaben vergeht sich so mancher Geber an der edlen Reziprozität des Gabentausches. Das gehört leider auch zum sozialen Miteinander bzw. Gegeneinander. Da wäre beispielsweise die Louis-Vuitton-Tasche, die in Wahrheit eine Fälschung made in Hongkong ist. Spanische Eroberer nutzten das Faible für Perlenketten der Ureinwohner und gaben Tand für die Gegengabe Land. Nicht nur zur Weihnachtszeit funktioniert die perfide Form des „Do ut des“ (lateinisch für „Ich gebe, damit du gibst“) in der Geschenkankündigung als Marketingtrick (Buy one, get one free). Und die „geschenkten“ Social-Media- oder sonstigen Apps bezahlen wir unbewusst mit unseren wesentlich wertvolleren Daten.
Der Blick in Schenkökonomien und Gabenethik sollte uns nun nicht die Weihnachtsstimmung verderben. Aber vielleicht hilft er, das eine oder andere Gefühl in unseren modernen Kula- und Potlatch-Varianten besser zu verstehen. Fröhliches Fest!
2 Kommentare
Huch, das ist kompliziert! Dass überhaupt noch jemand wagt, jemandem etwas zu schenken?
Ich jedenfalls bekomme gerne Geschenke aller Art! Nur Mut, Leser!
Ohne Geschenke an Weihnachten geht es halt nicht! Nur essen und Weihnachtsbaum angucken? Einmal probiert. War irgendwie traurig. Ist doch schön, wenn man was auspacken kann und am nächsten Tag noch damit beschäftigt ist, das Schlachtfeld in Ordnung zu bringen.
Allen fröhliche Weihnachten!