An Weihnachten kommt der Weihnachtsmann und an Ostern versteckt der Osterhase die Eier. Einerseits dämmert es dem heranwachsenden Kind irgendwann, dass es hier veräppelt wird. Andererseits sagen die Eltern: Lügen ist nicht erlaubt.
Was denn nun? Hinter dem Rauschebart lügt zwar Opa, aber er hat auch die Geschenke dabei. Lügen scheint doch nicht so übel zu sein. So haben wir schon sehr früh gelernt, das Lüge nicht gleich Lüge ist.
Man muss die Lüge definieren.
Lüge ist das Gegenteil von Wahrheit, aber was ist Wahrheit? Etwas ziemlich Großes und ein Lieblingsthema der Philosophen seit der Antike. Wir fahren hier lieber mit schlichteren Überlegungen fort.
Wiki definiert zunächst ganz allgemein: Eine Lüge ist eine Aussage, von der der Sender (Lügner) – anders als bei der Unwahrheit – weiß oder vermutet, dass sie unwahr ist, sie aber mit der Absicht äußert, dass der Empfänger sie glaubt (übernommen aus The Stanford Encyclopedia of Philosophy).
Aber warum werden Aussagen, die nicht ehrlich sind, von einer belogenen Person oder Gemeinschaft unterschiedlich bewertet?
Ist eine Floskel eine Lüge?
Da fällt einem der Aufenthalt in USA ein, wo ständig gefragt wird: „How are you?“ Der Amerikaner antwortet immer mit „fine“, selbst wenn es ihm schlecht geht. Die Deutsche, die das noch nicht gecheckt hat, fängt schlimmstenfalls an zu jammern. Die Deutsche ist zweifelsohne ehrlich, aber lügt der Amerikaner?
Nach unserer Definition lügt er eigentlich nicht, weil er weiß, dass der Empfänger ihm das „fine“ nicht unbedingt glauben muss.
Wenn man alle unsere Floskeln als Lüge bezeichnet, wird tagtäglich gelogen, dass sich die Balken biegen:
- Sehr geehrte Teilnehmerinnen und Teilnehmer (eigentlich: Also verehren tu ich hier keinen) …
- Ich freue mich sehr, hier sprechen zu dürfen (eigentlich: Ich wäre jetzt gerne daheim auf dem Sofa) …
- Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit (eigentlich: Vermutlich habt Ihr wieder nicht richtig die Ohren gespitzt) …
- … und wünsche Ihnen noch einen schönen Ausklang (eigentlich: Was Ihr jetzt macht, ist mir egal, Hauptsache, Ihr lasst mir was vom Buffet übrig) …
Fazit: Konventionelle Unwahrheiten, die der Höflichkeit und dem friedlichen Miteinander dienen, sind vielleicht gar keine Lügen.
Nicht gesagt ist auch gelogen
Verschweigen gilt zwar als eine Form der Lüge, doch Verschweigen aus Höflichkeit ist jedenfalls eine ausgesprochen freundliche Lüge. Überlegen Sie mal, was Sie heute alles nicht gesagt haben:
- Wie wär’s mal mit Wasser und Seife?
- Wie kann man nur so lahmarschig sein!
- Mein Gott, siehst du heute fertig aus … etc.
Verschweigen mit Hinterlist steht jedoch auf einem anderen (meist politischen) Blatt. Dazu unten mehr.
Die gute Lüge
Aber auch die knallharte Lüge kann ein positives soziales Ziel haben: In der Forschung spricht man von der altruistischen oder prosozialen Lüge.
Frühestens ab vier Jahren, manchmal viel später, kann sich ein Kind in sein Gegenüber hineinversetzen (Theory of Mind). Das ist die Voraussetzung, dass es andere manipulieren, sprich anlügen kann.
Vorher gilt Kindermund tut Wahrheit kund: „Der Kaiser hat ja gar keine Kleider an!“ Auch beim Beschenktwerden sind kleine Kinder gnadenlos ehrlich, indem sie bei Nichtgefallen jegliche Gegengabe wie Freude oder Dank verweigern. Nicht weil sie bereits verzogen sind, sondern weil sie noch nicht lügen können.
Ältere Kinder, obwohl ebenfalls eher im Bereich Egoismus unterwegs, nutzen bisweilen ihre Empathiefähigkeit, um altruistisch zu lügen, zum Beispiel um die gestresste Mutter zu schonen.
Ein typisches Beispiel für die Lüge, die dem Belogenen nützen soll: Das Arztteam verschleiert eine schlimme Diagnose, um eine Patientin nicht in Verzweiflung zu stürzen und so eventuelle Heilungschancen zu verringern.
Wie ist die Lüge zu bewerten, die einen Menschen vor einem Mörder oder mörderischen Regime rettet? Eben!
Aus der Not gelogen
Auf einer angenommenen Moralskala von notwendig bis verwerflich stehen die höfliche Unwahrheit und die uneigennützige oder sogar heldenhafte Lüge sicherlich unten. Die nächste Stufe wäre wohl die eigennützige Lüge, die der Sender nicht vorsätzlich zum Schaden anderer ausspricht: die psychologische Notlüge.
Eine Notlage liegt oft vor, wenn jemand aus Angst lügt oder zum Beispiel aus Scham.
An meine erste eigennützige Großlüge als Kind kann ich mich gut erinnern. In der Grundschule war das Aufsatzthema: „Beschreibe dein Zimmer.“ Ehrlich wäre mein Aufsatz sehr kurz geraten: „Unsere Eltern haben kein Geld für eine angemessene Wohnung und weder meine Schwester noch ich haben ein Zimmer.“ Meine Lüge bestand aus der fantasievollen Beschreibung eines wunderschönen Kinderzimmers und wurde mit einer Eins plus belohnt.
In der menschlichen Psyche sind die Grenzen nicht immer klar: Ist es seelische Not oder schon eitles Aufplustern oder gar Hochstapelei?
In seiner „Notlage“ als Beschuldigter darf der Angeklagte vor Gericht lügen. Selbst wenn seine Aussagen als unwahr aufgedeckt werden, muss er für sie keine strafrechtlichen Konsequenzen fürchten. Ganz anders sieht es für die Zeugen aus. Denen bleibt höchstens das Zeugnisverweigerungsrecht. Ansonsten: Raus mit der Sprache, und zwar ehrlich!
Auch einer Art „Not“ entstammen Lügen, mit denen sich der Lügner gewissermaßen selbst belügt: An ihre eigenen Lügen glauben zwanghafte pathologische Lügner, Fanatiker, Verschwörungstheoretiker.
Die Lüge, die für dumm verkauft
Die egoistische Lüge ist eine dissoziale Lüge, wenn sie bewusst zum Schaden der anderen ausgesprochen wird. In der Regel geht es um den eigenen Vorteil. So dient es der Schokoladenfabrik im Wettbewerb, wenn die Konsumentin des Werbefilms glaubt, dass die Schokolade mit ganz viel Liebe in der heimeligen Werkstatt angerührt wurde.
Aber vor allem geht es um Macht.
Ein Philosoph wie Macchiavelli kann dem durchaus Positives abgewinnen: Der Staatsführer muss sich nicht unbedingt an christliche Vorgaben halten. Hier gilt das achte Gebot „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten“ als überbewertet. Denn: Wer Macht will, muss lügen.
Eine eigene Kategorie ist daher die politische Lüge beziehungsweise die Lüge des Politikers (m/w/d).
Der ganz große Lügenhammer ist die diktatorische Propaganda. Aber wie widerstandsfähig ist eine Gesellschaft, wenn die Lügen eine Nummer kleiner daherkommen?
Lügen fliegen durch die Welt
Seit wir uns im Internet Informationen holen und soziale Medien für verlässliche Quellen halten, findet der politische Lügner unermesslich viele freudige Empfänger. Seriösere Medien ringen mit ihren Factchecking-Abteilungen um Aufklärung, oft vergeblich. Begriffe wie Lügenpresse und Alternative Facts fliegen herum wie Nebelgranaten.
Politikerlügen gab es freilich seit Menschengedenken und gehören zu den berühmtesten:
- Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.
- I did not have sexual contact with that woman.
- Großbritannien überweist wöchentlich 350 Millionen Pfund an die EU.
- Ich habe keine Erinnerung.
In die Geschichte eingehen dürften von nun an auch Aussagen über Haustieresser etc.
Dem Wahren, Schönen und Guten?
Aber was ist mit dem Blick auf unsere Moralskala? Eigentlich müssten die Absender dieser dreisten, vorsätzlichen, egoistischen, dissozialen Lügen doch von der Gesellschaft abgestraft werden.
Schon die alten Griechen schätzten in ihrer Kalokagathia das Schöne, Gute und an erster Stelle das Wahre.
Derart klassisch betrachtet ist es für Goethe beziehungsweise seine Iphigenie auf Tauris noch klar, wem die Lüge schadet:
O weh der Lüge! Sie befreiet nicht,
Wie jedes andre, wahrgesprochne Wort,
Die Brust; sie macht uns nicht getrost, sie ängstet
Den, der sie heimlich schmiedet, und sie kehrt,
Ein losgedruckter Pfeil, von einem Gotte
Gewendet und versagend, sich zurück
Und trifft den Schützen.
Lügen bereitet dem Lügner also Stress? Von wegen.
Wenn der Pfeil der Lüge zum Lügner zurückkehrt, dann gerne mit Blümchen, Gold, Macht und Einfluss.
Es scheint weniger wichtig, was gelogen wird, als wer da lügt. Hat ein Lügner erst mal eine Gruppe hinter sich, die ihn als Heilsbringer, Guru, sonstigen Personenkultträger oder einfach nur charismatischen Meinungsvertreter verehrt, werden Lügen nicht nur geglaubt, sondern auch verziehen. Er ist ja mein Lügner. Gerne auch in Abgrenzung zu anderen Gruppen.
Besonders angenehm lügt es sich für den Psychopathen, der kein Gewissen hat.
Haben also Aufklärung und Säkularisierung nicht der Wahrheitsliebe gedient? Mögen viele Menschen heute über den brennenden Busch, der auch noch sprechen kann, herzlich lachen, so sind sie nicht davor gefeit, moderne Märchen zu glauben oder zu akzeptieren.
Die Psychologie schaut sich für Erklärungen gerne in der Kindheit um. In der Tat erinnert uns der erfolgreiche politische Lügner an das eingangs erwähnte kindliche Dilemma: Opa verarscht mich doch, aber er ist immerhin der Weihnachtsmann mit den Geschenken.
Wer einmal lügt …
Lüge für Lüge können sich soziale Normen allmählich verschieben. Doch trinkt der freie Mensch nicht am liebsten reinen Wein? Wenn man niemandem mehr vertrauen kann, bleibt nur der Seufzer: Das darf doch alles nicht wahr sein!
3 Kommentare
Dein Aufsatz hat mich wie immer köstlich amüsiert! Aber glaubst Du mir diese Aussage überhaupt? Sie könnte ja aus vielen Motiven heraus eine unehrliche Schleimerei oder gar eine Lüge sein?! Ich jedenfalls unterhaltsam etwas gelernt und bin beeindruckt über die vielen Facetten, die Du beleuchtet hast!
IN KATHA WE TRUST!
Ich bin begeistert über die umfassende und erheiternde Betrachtung des Themas „Lüge“ (und das ist nicht gelogen!) In meiner Teenagerzeit habe ich auch öfter mal zu einer „Notlüge“ gegriffen, um mir trotz vieler Verbote ein Stückchen Freiheit zu ergattern.