Die eine Freiheit und die andere Freiheit in der Coronazeit

Nicht nur der Frühling, auch die Freiheit lässt ihr blaues Band wieder flattern durch die Lüfte, zumal Blau auch für Sehnsucht steht. Nach moderater Eindämmung der Corona-Fallzahlen mehren sich, wenn auch regional verschieden, die Lockerungen im Shutdown. Erleichterung, Freude und neue Wertschätzung des Alltäglichen wabern wunderbar durch die Volksseele, allerdings ist das Virus noch da. Daher die Frage: Wer ist hier eigentlich wie frei?

Kurzer Rückblick in den nationalen Lockdown: Von einigten besorgten Meinungsmachern gab es die Befürchtung, die brav daheimbleibenden Deutschen seien ein obrigkeitshöriges Volk von kadavergehorsamen Marionetten, die bereitwillig ihre Freiheitsrechte abgeben. Andererseits konnte man an allen möglichen Ecken und Enden staunend zur Kenntnis nehmen, wie unterschiedlich lang 150 Zentimeter und wie variabel die Anzahl von zwei Menschen so sein können.

Wenn schon in der Lockdown-Zeit Zweifel an der Compliance der Eingeschränkten aufkommen mussten, darf man jetzt erfahren, wie es bei den Lockerungen mit manchen Menschen durchgeht. Auf dem Wochenmarkt wird wieder geschoben, die Maske wird nach dem Aussteigen aus dem Bus hektisch aus dem Gesicht gerissen. Oder man geht jetzt demonstrieren. Freie Fahrt für freie Bürger im Coronaland.

Freiheit

Mit „Freiheit, die ich meine“ beginnt ein politisches Gedicht des deutschen Dichters Max von Schenkendorff von 1813, das sich seither die unterschiedlichsten Gruppen zur poetischen Untermauerung ihrer Ideen zu eigen gemacht haben. Denn mit der „Freiheit, die ich meine“, meint jeder etwas anderes.

Das könnte in der Zeit des schrittweisen Exits so aussehen:

  • Der Eine meint die Freiheit, wirtschaftlich zu agieren, das Leben zu regeln und seelisch aufzutanken.
  • Der Andere meint, wieder tun und lassen zu können, was er will. In schönster Rebellendenke sieht er die verbliebenen Regeln als unzumutbare Vorschriften von Eliten, die angeblich das Grundgesetz nicht mehr unter dem Arm tragen, sondern mit Füßen treten. Bei dieser Gelegenheit lässt er die ungeschriebenen Regeln des zwischenmenschlichen Anstands gleich mit über die Wupper gehen.

Wer jetzt dem Mitmenschen willentlich oder nachlässig nahekommt oder die Höflichkeitsmaske wegwirft wie in den Siebzigern Aktivistinnen ihren Büstenhalter, praktiziert die andere Freiheit. Die andere Freiheit ist die Freiheit,

  • keine Empathie zu zeigen
  • Schwächere zu gefährden
  • die Fallzahlen wieder nach oben zu treiben
  • den erschöpften Pflegekräften und Ärzten Schläge ins Gesicht zu geben

Nicht nur Menschen, die Unsicherheit für politische Zwecke einsetzen, versammeln sich lautstark zum Protest gegen Coronaregeln. Doch wer für diese Freiheit infektionsriskant auf die Straße geht, sollte mit Gegendemonstranten rechnen. Ein Vorschlag für deren Schlachtruf: MIT ANSTAND AUF ABSTAND. Kurz, einprägsam und metrisch gleichmäßig könnte man den auch gut skandieren. Aber Abstandsaktivisten halten sich ja dummerweise an das Corona-Versammlungsverbot.

Dabei ist die egoistische Freiheit in einer Corona-Welt nicht nur die Unfreiheit des Schwächeren. Auch wem die Gesundheit Älterer und chronisch Kranker wurst ist, kann schließlich selbst von einem schweren Verlauf erwischt werden. So haut sich der Aufbegehrende mit der Widerstandskeule gegebenenfalls selbst um und singt dann das Lied von Freiheit und Abenteuer im eigenen Krankenbett.

Mal abgesehen davon, dass man das Risiko einer zweiten Welle mit Infektionsexplosion und Notbremsen-Lockdown 2.0 nicht wegdemonstrieren kann.

Man muss weder den kategorischen Imperativ noch staatstheoretische Überlegungen über das menschliche Zusammenleben bemühen, um mal wieder den Sinn der gegenseitigen Rücksichtnahme zu betonen. Was unsere Freiheit am meisten gefährdet, ist nach wie vor das Virus. Um es in Schach zu halten, müssten möglichst alle mitmachen.

Man könnte sich also über die Lockerungen freuen und sie mit Umsicht und Anstand umsetzen. Wer hingegen nur noch an Panikmache zur Vernichtung der eigenen Grundrechte glaubt, rutscht leicht in das Fantasia der Verschwörungsgläubigen. Ob man da noch so frei ist, sei dahingestellt.

Zum Abschluss ein Buchtipp. George Washington hat nicht nur die Vereinigten Staaten von Amerika mitgegründet, sondern auch 110 Rules of Civility and Decent Behaviour (Regeln für Höflichkeit und anständiges Verhalten) aufgeschrieben.

In der Corona-Gesellschaft klingt Regel Nummer eins ganz passend …

Every action done in company ought to be with some sign of respect to those that are present. (Jede Handlung in der Gesellschaft sollte mit einem Zeichen des Respekts gegenüber den Anwesenden erfolgen.)

… und Regel Nummer fünf geradezu visionär:

If you cough, sneeze, sigh or yawn, do it … privately and … turn aside. (Wenn Du hustest, niest, seufzst oder gähnst, behalt’s für dich und dreh dich weg.)

English Version

One freedom and the other freedom in the Corona age

After a moderate containment of the corona cases, the loosening of the shutdown is increasing, although with regional differences. Relief, joy and a new appreciation of the everyday waft wonderfully through the folk soul, but the virus is still there. Hence the question: Who is actually free and how?

A brief look back at the national lockdown: some concerned opinion-makers feared that the Germans who stayed at home were an obedient people of cadaver-obedient puppets who willingly surrendered their liberty rights. On the other hand, one could be amazed at how differently long 150 centimetres and how variable the number of two people can be.

If doubts about the compliance of the restricted persons had to arise already during the lockdown period, you can now find out how some people get loose with the loosening. At the weekly market people are pushing again, the mask is hectically torn from their faces after getting off the bus. Or one goes to demonstrate now. Free passage for free citizens at Coronaland.

With „Freiheit, die ich meine“ begins a political poem written by the German poet Max von Schenkendorff in 1813, which has since been adopted by a wide variety of groups to provide poetic support for their ideas. For with „Freedom that I mean“, everyone means something different.

This could look like this at the time of the gradual exit:

  • One person means the freedom to act economically, to regulate life and to refuel mentally.
  • The other thinks he can do whatever he wants again. In the most beautiful rebel thinking he sees the remaining rules as unacceptable regulations of elites who allegedly no longer carry the Basic Law under their arms but trample it underfoot. On this occasion he lets the unwritten rules of interpersonal decency go down the drain.

Those who now willingly or carelessly approach their fellow human beings or throw away the mask of politeness like activists did with their brassieres in the seventies, practice the other freedom. The other freedom is freedom,

  • not to show empathy
  • to endanger the weaker ones
  • to drive up the number of cases again
  • to slap exhausted nurses and doctors in the face

It is not only people who use insecurity for political purposes who loudly gather to protest against corona rules. But those who take to the streets at risk of infection for this freedom should expect counter-demonstrators. A suggestion for their battle cry: DISTINCT DISTANCE. Short, catchy and metrically even, one could also chant it well. But distance activists stupidly adhere to the Corona assembly ban.

Yet the selfish freedom in a Corona world is not only the lack of freedom of the weaker. Even those who don’t care about the health of the elderly and chronically ill can eventually be hit by a severe disease. So the rebel with the resistance club may knock himself out and then sing the song of freedom and adventure in his own sick bed.

Apart from the fact that the risk of a second wave with infection explosion and emergency brake lockdown 2.0 cannot be demonstrated away.

It is not necessary to apply either the categorical imperative or state-theoretical considerations about human coexistence to emphasize once again the sense of mutual consideration. What threatens our freedom most is still the virus. To contain it, we need everyone to participate.

So one could be happy about the loosening and implement it with prudence and decency. On the other hand, those who only believe in panic-mongering easily slip into the fantasy of the conspiracy believers.

Finally, a book recommendation. George Washington not only co-founded the United States of America, but also wrote 110 Rules of Civility and Decent Behaviour.

In Corona society, rule number one sounds quite appropriate …

„Every action done in company ought to be with some sign of respect to those that are present.“

…and rule number five almost visionary:

If you cough, sneeze, sigh or yawn, do it … privately and … turn aside.

1 Kommentar

Genaus so ist es, Grund- und Freiheitsrechte bedeuteten eben nicht, dass man sich rücksichtslos verhalten kann und andere darunter leiden müssen!

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