Älteren Menschen wird gerne nachgesagt, dass sie schrullig werden. Vor allem, wenn sie sich nicht mehr so darum scheren, was sie nach allgemeiner Vorstellung zu tun und zu lassen hätten. In so einem Fall befinden sie sich „ex centro“, außerhalb der Mitte. Aus diesem lateinischen Standpunkt ist die Bezeichnung „exzentrisch“ abgeleitet. Doch eine Altersschrulle macht noch lange keinen Exzentriker*. Exzentriker ist man in der Regel von klein auf. Dazu kommen fünf Merkmale, die der Exzentriker mindestens erfüllen muss. Er ist unangepasst, kreativ, neugierig, idealistisch beziehungsweise optimistisch mit Weltverbesserungsanspruch und besessen von einer oder mehreren Lieblingsbeschäftigungen.
Psychologische Definitionen von Exzentrik waren lange Zeit vage und Abgrenzungen von psychischen Krankheiten nicht erforscht. Also hat sich in den achtziger Jahren der Neuropsychologe David Weeks der seltenen Spezies Exzentriker wissenschaftlich angenommen. Dafür mussten zunächst Wichtigtuer, Witzbolde, psychisch Kranke und Einsame herausgefiltert werden. Während einer gigantischen Recherche mithilfe der Medien stellte sich heraus, dass nur ein Mensch von zehntausend als echter Exzentriker definiert werden kann. Tausend Probanden dieser seltenen Spezies konnte Weeks schließlich eingehend interviewen.
Dabei stellten sich einige weitere Eigenschaften heraus, die den meisten der Sonderlinge gemein sind:
- Sie sind überdurchschnittlich intelligent.
- Sie sind ziemlich eigensinnig, um nicht zu sagen stur.
- Sie leben meist alleine, ohne sich einsam zu fühlen.
- Sie haben einen spitzbübischen Humor.
- Sie haben keine Ambitionen, mit anderen in Konkurrenz zu treten und Anerkennung zu erheischen.
- Sie nehmen Materielles nicht so wichtig.
- Sie haben ausgerechnet in der Lebensphase mit dem höchsten Verlangen nach Gruppenzugehörigkeit, nämlich Kindheit und Jugend, beschlossen, anders zu sein.
Das Motto könnte also lauten: Ich weiche ab, ich kann nicht anders. Der Spruch „Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert“ trifft es insofern nicht ganz, als der Ruf dem Exzentriker herzlich egal ist.
Zentrum, nein danke!
Das ist die große Leistung der Exzentriker: Wo sich das Zentrum befindet, definiert die Gesellschaft. Von dort auszuscheren ist extrem anstrengend und kann nur mit einem ebenso ausgeprägten Maß an Selbstbewusstsein und Selbstliebe gut gehen. Als Ur-Exzentrikerin gilt die reiche Amerikanerin Florence Foster Jenkins, die von ihrem Selbstverständnis als begnadete Opernsängerin nicht abzubringen war, auch nicht durch das schallende Gelächter ihrer Zuhörer. Ihre Konzerte „zum Totlachen“ wurden zum Renner und ihre schillernde Persönlichkeit zum Stoff für Theaterstücke und Filme.
Aber auch Aspekte der psychologischen Besonderheit sind nicht immer zu verleugnen. So kann Exzentrik nach Expertenmeinung eine Nähe zum Autismus beziehungsweise Asperger-Syndrom zeigen. Vor allem das Desinteresse an der Meinung und dem Feedback der Mitmenschen sowie eine extreme Ordnungsliebe würden in diese Richtung deuten.
Exzentrik gilt jedoch ausdrücklich nicht als Krankheit und gehört nicht zu den schweren psychiatrischen Leiden. Insofern darf bezweifelt werden, dass Howard Hughes, der wohl an extremer Angst vor Bakterien litt und sich in seinen bizarren Ernährungs- und Lebensgewohnheiten immer mehr einengte, ein klassischer glücklicher Exzentriker war. Nicht zu verwechseln sind Exzentriker außerdem mit Fanatikern oder Kriminellen.
Exzentrik versus Ego-Show
Des Weiteren sollte man Selbstdarsteller und Wichtigtuer von Exzentrikern unterscheiden. Menschen, die unbedingt auffallen wollen oder sich im Fernsehshows lustvoll zum Narren machen, treibt vermutlich eher die Sucht nach Anerkennung als die Freiheitsliebe des Exzentrikers. Auch wenn sich Tausende den Körper großflächig tätowieren lassen, wird aus der einstigen Normverletzung reines Mitläufertum.
Wenn normal das Einhalten der Norm bedeutet, kann man sich fragen: Warum ist es den meisten Menschen so wichtig, nicht aus dem gesellschaftlich anerkannten Rahmen zu fallen? Die Antwort: Anpassung garantiert Sicherheit und Kontrolle.
Einerseits für das Individuum: Der Mensch als soziales Wesen braucht die Gruppenwärme für seine psychische Gesundheit. Die angenehme Empfindung, inmitten von Gleichgesinnten verstanden und aufgehoben zu sein, kann im Fußballstadion zum puren Hochgefühl anwachsen. Natürlich darf man auch mal aus der Rolle fallen, zum Beispiel im Karneval, aber nur, weil das sonderbare Verkleiden und Schunkeln in diesem Zeitraum die gesellschaftliche Norm sind.
Andererseits bringt die weitgehende Einhaltung von sozial anerkannten Normen auch dem Gemeinwesen Sicherheit und Kontrolle. Das Gegenteil wären Chaos und Anomie, nicht zu verwechseln mit Anarchie, womit in der Theorie nicht ein unorganisiertes Durcheinander, sondern das Fehlen von Herrschaft gemeint ist.
Gegen den Strom kostet Kraft
Gerade weil sie so vehement eingefordert wird, kann Anpassung für den einzelnen aber auch enormen Stress bedeuten. Je geringer das Selbstwertgefühl, desto schmerzlicher ist die ständige Frage, ob man richtig liegt und nicht aneckt. Während der Exzentriker mit seiner unkonventionellen Verfassung im Reinen ist, kann sie dem Außenseiter zur Pein werden. Denn nicht jeder kann oder will im Strom mitschwimmen. Individualisten, die psychisch nicht gegen den Anpassungsdruck der Mitmenschen gewappnet sind, leiden sehr an ihrem Anderssein.
Ein solider Exzentriker wiederum nimmt sich die Frage, was andere denken, nicht im Geringsten zu Herzen, außer vielleicht, wenn er jemanden von seiner eigenen Meinung überzeugen möchte. Entsprechend kann der Ex-centro-Standpunkt bei ihm auch keinen Stress auslösen. Weeks sah darin eine Erklärung für die Tatsache, dass die meisten seiner Sonderlinge überdurchschnittlich gesund und langlebig waren.
Obwohl sie gegen Normen verstoßen, erfahren viele echte Exzentriker keineswegs Ablehnung, sondern Wohlwollen, ja sogar besondere Sympathie. Bekannt für ihr Exzentriker-Faible sind die Briten. Dafür kursieren zwei Erklärungen: Die eine ist die Toleranz einer liberal-demokratischen Gesellschaft, die andere ist – eher im Gegenteil – die rigide Klassenstruktur der britischen Gesellschaft. Der Exzentriker befindet sich demnach weder oben noch unten, sondern außerhalb der Klasse, als wohlgelittene Ausnahme von der Regel. Diese Theorie weckt Assoziationen zur Rolle des schlauen Hofnarren in der Adelsgesellschaft. Aber auch Angehörige der höchsten Klasse, nämlich der Adelskaste selber, konnten es sich erlauben, sich exzentrisch auszuleben.
Genie und Wahnsinn
Trotz gemeinsamer Persönlichkeitskriterien findet sich innerhalb der Exzentriker-Gemeinde ein breites Spektrum. So gibt es Exzentriker, deren Realitätsferne grotesk anmutet, wie etwa Joshua Norton alias „Norton I.“, der sich im 19. Jahrhundert als selbst ernannter Kaiser der Vereinigten Staaten großer Beliebtheit erfreute.
Zu den Exzentrikern gehören aber auch zahlreiche Menschen, die in der Gesellschaft nicht nur durch unkonventionelles Verhalten, sondern auch durch Bedeutsamkeit herausragen. Mal abgesehen davon, dass die Kriterien der Exzentrik auch auf Jesus und Buddha zutreffen. So ist für Künstler der Normverstoß geradezu eine Voraussetzung, um Neues zu schaffen. Am augenscheinlichsten verkörpert ist die exzentrische Verfassung wohl im Auftritt des Malers Salvador Dalí. In der Wissenschaft gelten ebenfalls viele Wegbereiter als klassische Eigenbrötler, allen voran Albert Einstein.
Paradiesvogel im Amt
Dabei kann „ex centro“ zwar außerhalb von Konventionen, aber nicht immer außerhalb der Gesellschaft bedeuten. Die meisten der Exzentriker-Kriterien treffen beispielsweise auf Andrea Milz zu, die sich, in unzähligen Variationen farbenfroh frisiert und gekleidet, als Paradiesvogel bekennt und seit der Kindheit unbeirrt einen anderen Weg als die Menschen in ihrer Umgebung gegangen ist. Da mag es manch optisch Irritierten überraschen, dass eine Frau wie sie als Staatssekretärin in der nordrhein-westfälischen Staatskanzlei anzutreffen ist, und zwar nicht als Mitglied der Grünen, sondern der CDU.
Bleibt die Frage, wie „Normalos“ mit Exzentrikern umgehen können. Eine mögliche Antwort ist: Es kommt darauf an, wie engagiert und wie lange. Bis zu einer gewissen Intensität und Dauer des Miteinanders kann man sicher eine Bereicherung des eigenen normierten Daseins genießen. So würde man die Britin Ann Atkin und ihre Tausende von Gartenzwergen wohl gerne besuchen, aber vielleicht nicht bei ihnen einziehen wollen.
Aber warum nicht ab und zu selber mal ausscheren? Auch wenn man nicht zum Exzentriker geboren ist – die eine oder andere Schrulle kann ungeahnte Freiheiten bringen, solange man sich dabei wohlfühlt.
*Es soll hier hervorgehoben werden, dass Exzentrik durchaus kein rein männliches Phänomen ist. Im Sinne der Lesbarkeit wird im Beitrag die männliche Form Exzentriker verwendet. Sie ist als generisches Maskulinum zu verstehen, das Exzentrikerinnen inhaltlich miteinschließt.