Spazieren – geht doch!

Wohl dem, der es kann und darf: Spazieren. Wie wir jetzt wissen, ist es nicht selbstverständlich. Eine Ausgangssperre ist jedermanns Knast. Nun ist erkennbar, was Spazieren eigentlich ist: Freigang! 

Freigang für Gedanken

Da der Mensch im Laufe der Evolution nicht nur den aufrechten Gang erworben hat, sondern auch ein kompliziertes Gehirn, wirken beide aufeinander ein.

Großdenken ist sowieso Spaziergängersache: Nietzsche stapfte Sommer für Sommer im Engadin herum, bis ihm unter anderem Zarathustra einfiel. Schopenhauer liebte den täglichen Verdauungsspaziergang am Main mit Pudel. Michel de Montaigne wusste: „Meine Gedanken schlafen ein, wenn ich sitze.“ Goethe hatte viel fürs Gehen übrig: „Ich ging im Walde so für mich hin …“. Mark Twain plädierte indirekt fürs kontemplative Gehen: „Golf ist ein schöner Spaziergang, der einem verdorben wird.“

Spazieren setzt Gedanken frei und zwar nicht nur bei Dichtern oder Philosophen. Das hat was mit dem Sauerstoff unter freiem Himmel und den vielfältigen Reizen der Umwelt zu tun, aber auch mit dem Gleichtakt der Schritte, der das Gehirn stimuliert. Das haben Neurologen herausgefunden.

Wie Gehen und Denken sich gegenseitig beflügeln, ist auch eine der Fragestellungen der Spazierwissenschaft. Die Promenadologie, das Spazieren zu Forschungszwecken ist kein Witz, sondern aus einer soziologisch fundierten Stadt- und Umweltplanung entstanden. Es geht unter anderem darum, buchstäblich „eingefahrene“ Wahrnehmungsmuster zu durchbrechen, die Umwelt gehend neu zu erschließen und daraus Schlüsse für die Gestaltung zu ziehen.

Doch was bringen spazierwissenschaftliche Erkenntnisse den Menschen, die keine Architekten oder Stadtplaner sind? Oder anders gefragt: Was hat man als normaler Spaziergänger davon, wenn man seine vier Wände verlässt und einfach so losgeht? Kurz gesagt: Es geht darum, die Umgebung gehend wahrzunehmen und so die Welt intensiver zu erkennen. Dabei kann man – wie es dem Menschen so eigen ist – auf Ideen kommen, zum Beispiel:

  • was man gut findet
  • was man ändern will
  • welcher Sache man „nachgehen“ möchte
  • was man unternehmen könnte
  • was man erschaffen möchte

Mit offenen Augen und Sinn (und ein Paar guten Schuhen) kann jeder damit an der Haustür starten. Die Wege, die man einschlägt, sind beliebig und dürfen durchaus vom Gewohnten abweichen. Gehend denken beziehungsweise weiterdenken geht ebenso in Gesellschaft, wenn auch zur Zeit nur nach Anzahl- und Abstandsvorschrift.

Spazieren
Freigang für die Seele

Aber muss denn immer ein Ergebnis rauskommen? Nicht beim Spazieren um des Spazierens willen. Denn eines der schönsten Ziele kann es sein, kein Ziel zu haben. Schon der legendäre Nachrichtenmoderator und Syltliebhaber Hans-Joachim Friedrichs beteuerte, nach jedem Strandspaziergang hätte sich bei ihm etwas „zurechtgeruckelt“.

Das Schlendern, Flanieren, Sich-treiben-Lassen, Umherschweifen, Bummeln oder gar Lustwandeln sind menschliche Tätigkeiten, die sich ziemlich entspannend anhören. So erklärt sich auch der Unterschied zwischen Fußgängerweg und Promenade. Letztere hat ihren Namen aus dem Französischen se promener, zu Deutsch herumspazieren, und wurde extra angelegt, um zu sehen und gesehen zu werden. Selbstverständlich sollte diese Art von Gemeinschaftserlebnis in einer Viruskrise mit reichlich Abstand erfolgen.

Eine andere Art des Gehens dient ebenfalls dem Seelenheil, hat aber durchaus ein Ziel vor Augen, und zwar oft ein ziemlich weit entferntes. „Ich bin dann mal weg“, entscheidet der Pilger, um Schritt für Schritt religiöse, seelische Erfahrungen beziehungsweise zu sich selbst zu finden. Das Gehen ist so heilig wie das Ziel. Wenn einem etwas wirklich wichtig wird, und sei es auch die Pommes-Bude, dann geht man nicht hin, sondern pilgert.

Freigang für Energien

Das Gehen geht aber auch viel profaner. Die Decke hängt wie ein Damoklesschwert über dem Kopf? Also einfach raus, bevor man irgendwas kaputt macht, und sei es nur die gute Stimmung! Bewegung senkt das Stressniveau, vor allem wenn man regelmäßig Strecke macht. Wenn die Füße dabei auf Park- oder anderen naturnahen Boden treffen, sinkt dass Stresshormon Cortisol besonders zuverlässig. Alles empirisch nachgewiesen.

Spazieren
Freigang für die Augen

Ein wahrer Vorzeige-Spaziergänger der Kunstgeschichte ist Caspar David Friedrichs Wanderer im Nebelmeer. Weit ist die Landschaft in der Ferne, und sein Auge schweift drüber. Wer jetzt in der Endlosschleife von Homeoffice und Netflix hängt, sollte sich definitiv ein Beispiel nehmen. Augen brauchen nämlich die Auszeit mit dem Blick ins Weite, sonst drohen Trockenheit, Hornhautgegschwür und schlimmstenfalls Netzhautablösung. Die Augenfreiheit bedingt aber keine grandiose Bergwanderung. Regelmäßig um die Ecke geht auch.

Freigang für Gefäßströme

Bitte weitergehen! Regelmäßige Bewegung bringt Herz und Kreislauf in Schwung. Hält Gefäße frei und Gehirne aktiv (siehe Freigang für Gedanken).

Freigang für Knochenschützer

Beim Gehen – es darf gerne in die anstrengendere neudeutsche Variante Walken ausarten – leisten wir krisenbedingten Verfallserscheinungen dreifach knochenharten Widerstand.

  1. Der stramme Spaziergang stärkt Muskeln und Sehnen, den Halteapparat unseres Skeletts.
  2. Die Zug- und Druckbelastungen beim lustvollen Marschieren regen den Knochenstoffwechsel an.
  3. Im Freien wird die Vitamin-D-Produktion angekurbelt.

Schließlich brauchen wir zur Virus- nicht noch eine Osteoporose-Krise.

Freigang für Familiensinn

Spazieren ist eine Aktivität, mit der man wider alle Vorurteile (laaaangweilig) auch Kinder und Enkel aus der Reserve beziehungsweise aus der Bude locken kann. Das Geheimnis: Man gebe der Exkursion ein Motto. In der Stadt lassen sich spannende Themen mittels Straßennamen erwandern: Bäume, Vögel, Regionen (Europaviertel), wichtige Personen wie Komponisten, Künstler, Wissenschaftler, Denker (von der Beethoven- zur Schillerstraße).

Eine erstaunlich ergiebige Quelle für Spaßmomente ist es, Ähnlichkeiten zwischen Gassiführer(inne)n und deren Hunden zu entdecken.

In der Natur kann man für kleinere Kinder Such- und Sammelwettbewerbe für „Schätze“ wie Blätter, Kastanien, Tannenzapfen und so weiter veranstalten und für die Größeren Quizze zur Pflanzen- und Baumbestimmung.

Was immer ankommt, ist die Schatzsuche. Das geht per App beim Geocaching oder mit einer klassischen Schnitzeljagd.

Klar ist: Die Coronvirus-Krise ist kein Spaziergang. Deswegen sollte man, wenn diese Freiheit noch da ist, einen machen.

1 Kommentar

Wunderbarer Artikel, sehr motivierend! Weil gerade Corona-bedingt nicht so viel Verkehr ist, kann man auch mitten in der Stadt gemütlich spazieren und seine direkte Umgebung oder bisher wenig beachtete Ecken mal genauer anschauen. Alle kleinen Geschäfte, Restaurants mit interessanten Karten oder schummrigen Eckkneipen, die ich später noch einmal von innen erkunden will, „notiere“ ich als Handyfoto. Ich bin schon voll Vorfreude auf die ersten Tests!

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