Auf der Flucht vor dem Wullimann

Als wir Kinder waren, kannten wir noch keine Verschwörungstheorien, aber den Butzemann, den Nachtkrabb oder den Wullimann. Sie alle gehören zu der Kategorie mit dem schönen Wort Kinderschreckfigur. Als Babyboomer hat man daher früh gelernt, mit unbekanntem Grusel umzugehen. 

In den Sechzigern, als man Helikopter noch mit dem Kalten Krieg und nicht mit Eltern mit Kinderbehütungsmanie in Zusammenhang brachte, war Angstmache unser täglich Brot.

Offenbar hatte sich kaum ein Erwachsener etwas Schlimmes dabei gedacht, Kinder mit Entführung, Folter und Tod zu bedrohen, um erzieherische Ziele (sei brav, komm pünktlich heim) zu erreichen. Denn den Begriff „Schwarze Pädagogik“ gab es noch nicht.

Sicher waren die Monsterwarnungen auch gut gemeint, als Kinder noch ganz selbstverständlich alleine draußen herumstromerten. Schließlich existierten reale Gefahren, darunter die echten Kindermitnehmer. So wurde den Kleinen in Norddeutschland früh die Angst vor dem Mitschnacker eingebläut. Da dieser ebenfalls als Dämon beschrieben wurde, wäre die Warnung vor einem fremden freundlichen Onkel vermutlich schlauer gewesen.

Menschen, die in den Sechzigern im bayerischen Schwaben oder Allgäu aufgewachsen sind, kennen beispielsweise den Wullimann. Niemand weiß, wie er aussieht, aber dass er dich holt und möglicherweise tötet, wenn du abends nicht rechtzeitig daheim ist, war gruselig genug.

Je nach Herkunft bauten Eltern auf die pädagogische Unterstützung spezieller Furchtgestalten. Beispiele sind

  • der Butzemann in süddeutschen und norddeutschen Gegenden, den sich das Kind als üblen Kobold vorzustellen hatte (im angelsächsischen Sprachraum als Bogeyman unterwegs)
  • der Nachtkrabb in Süddeutschland und Österreich, eine Art Dementor, der mit Kindern, die im Dunkeln noch draußen sind, ins Ungewisse fliegt
  • der Blutschink im Raum Tirol, ein Bär-Mensch-Wesen mit blutbedeckten Beinen, weil es ständig Kinder frisst, die sich in der Nähe von Gewässern aufhalten
  • der Schwarze Mann im gesamten deutschsprachigen Raum, ein zwischen Tod und Teufel changierendes, jedenfalls dunkel ausstaffiertes Gruselwesen, das Kindern ebenfalls nach Sonnenuntergang nach dem Leben trachtet
Alle Monster und Geister sind echt

Die Bedrohung durch die Kinderschreckfigur fiel auf fruchtbaren Boden, da wir uns als Vorschulkinder in der magischen Vorstellungsphase befanden.

Zum Überleben gab es zwei Strategien: 

  • Konsequent unartig sein und feststellen, dass einen der Wullimann immer noch nicht geholt hat (was dennoch ein stressiges Glücksspiel war, da die Bedrohung in der Vorstellung wirklich existierte)
  • Immer vor Sonnenuntergang zuhause sein und sicherheitshalber regelmäßig unter dem Bett nachschauen 

Die finale Lösung ergab sich von selbst, indem man zum Schulkind heranreifte und immer zuverlässiger zwischen Fantasie und Realität unterscheiden konnte. Das war auch die Zeit, als ernsthafte Zweifel aufkamen, ob der Typ hinter dem Rauschebart wirklich der Weihnachtsmann ist oder nicht doch der Opi.

Nicht, dass es nicht auch die guten Fantasiefiguren gegeben hätte, dem Kinderbuchautor Otfried Preussler sei Dank. Der Räuber Hotzenplotz (der Oger der Sechziger) hätte dem Wullimann sicher eins aufs Dach gegeben; aber auf diesen Zusammenhang hätte man als Babyboom-Kind erst mal kommen müssen.

Genau das empfehlen Pädagogen heute, wenn Eltern oder Großeltern ihren kleinen Kindern oder Enkeln Monsterängste nehmen wollen: Bleiben Sie in der Fantasiewelt und lassen Sie den guten Drachen über den bösen siegen. Oder beschreiben Sie das Monster als Wesen, das selber mal Angst hat.

Wir Ältere hingegen hatten die Bedrohung irgendwie in unsere Kindheit integriert, zum Teil auch spielerisch. Halloween kannten wir noch nicht, aber das jahrhundertealte Fangspiel „Wer hat Angst vor dem schwarzen Mann?“. Obwohl der schwarze Mann als Allegorie für den Tod, die Pest oder den Teufel galt, wäre es heute nötig, den Anklang an einen rassistischen Gehalt zu vermeiden. So hätte sich der Gruselfaktor bei „Wer hat Angst vor der Person of Color“ ohnehin erledigt.

Wer war Ihre Kinderschreckfigur? Falls auch Sie Erinnerungen an die Zeit vor Lord Voldemort und die Todesser haben, schreiben Sie gerne einen Kommentar.

1 Kommentar

Ich komme aus Süddeutschland und an den Wullimann kann ich mich auch noch gut erinnern. Wie sehr mich das allerdings beeindruckt hat, ist mir nicht mehr in Erinnerung. Obwohl, unter das Bett habe ich sicherheitshalber immer geschaut. Man kann ja nie wissen! Es ist schon interessant, mit welchen Schreckgespenstern die Erwachsenen ihre Kinder verängstigen. So einen Quatsch habe ich bei meinem Kind nie angewandt!!

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