Soziale Distanzierung – das Paradox einer Krise

Soziale Distanzierung – mit diesem Begriff konnten bis vor einigen Wochen allenfalls Soziologen und Virologen etwas anfangen. Jetzt müssen wir eine Pandemie erleben, in der die Gesellschaft durch ihre Vertreter beschließt, dass ihre Individuen möglichst weit auseinanderrücken. Doch bei genauem Hinsehen entdeckt man in sozialer Distanz einen schönen menschlichen Widerspruch.

In der Kohorte, im Kollektiv, in der Gruppe, und sei sie auch nur ein Grüppchen, fühlt das Zoon politikon, das Gemeinschaftswesen Mensch, sich nach Aristoteles wohl – von sehr Introvertierten vielleicht abgesehen. (Das Unbehagen gegenüber anderen Gruppen steht auf einem anderen Blatt.)

Jetzt aber dürfen wir nicht mehr auf die menschlichste Art – Schulter an Schulter sozusagen – interagieren. Die Arbeitswelt leidet, weil Wertschöpfung oft nur zusammen funktioniert. Die private Welt ist verstört, weil Menschen sich nur entspannen, wenn sie unter denen sind, die sie mögen (Kneipe, Party) oder die das Gleiche toll finden, wie sie selbst (Verein, Sport, Kultur). Ist aber gerade bei Strafe verboten.

Dennoch steht der Begriff soziale Distanzierung derzeit vor allem für sein Gegenteil: soziale Nähe. Schon klar, dass mit der sozialen Distanz in Viruszeiten nur das räumliche Fernhalten gemeint ist. Dass aber so viel physischer Abstand so viel psychisches Zusammenrücken hervorbringt, überrascht dann doch.

Soziale Distanzierung

Unter dem Diktat der Distanz ist eine Nähe entstanden, die nichts zu tun hat mit Bussi Bussi oder Brüderschafttrinken, sondern eher mit Nächstenliebe, Respekt und Aufgeschlossenheit. Denn die separierten Bürger sind vielen Mitmenschen emotional (noch) nähergekommen:

  • Leuten, die einfach anrufen und fragen, wie es einem geht
  • Älteren, deren selbständiges Leben bedroht ist, weshalb Jüngere für sie einkaufen gehen
  • Hochaltrigen und Pflegebedürftigen in Alten- und Pflegeheimen, deren Fragilität und Leid unter unzulänglichen Rahmenbedingungen in der Unterbringung jetzt besonders schmerzen
  • den Pflegenden, auf deren unterbezahlte Höchstleistungen endlich Licht fällt
  • den Ärzten mit einem hippokratischen Eid jenseits von Überbehandlung und Schönheitschirurgie
  • den Läden, Pizzaservice und Busse am Laufen haltenden Niedrigverdienern, deren Systemrelevanz uns ganz warm ums Herz werden lässt und die zu all dem noch den Eindruck vermitteln, dass sie es gern tun
  • den Unternehmensleitern, die versuchen die Firma und Arbeitsplätze zu retten und Übernahmen zu trotzen
  • Textilunternehmern, die Mundschutze produzieren, Autobauern, die Beatmungsgeräte herstellen
  • Betreibern eines Hotelportals, die tröstliche Postkartenfotos mailen
  • den DJs, die mit ihrem Mediathek-Angebot United We Stream die Clubs öffnen, in die auch die coolsten Cool Ager in diesem Leben nicht mehr reingekommen wären
  • den Künstlern aus Musik und Theater, die ihre Vorstellungen ins Wohnzimmer streamen
  • Leuten, die nicht kündigen, weil das Fitnessstudio länger zu hat
  • Lehrern und Hochschullehrern, die gegen alle Widrigkeiten versuchen, die Lerninhalte online zu vermitteln
  • Journalisten, die ihren Job gelernt haben und verlässliche Informationen vermitteln wollen
  • Menschen, die einfach nur deswegen einen Mundschutz tragen, um andere nicht zu gefährden
  • Leuten, die sich an die Maßnahmen halten und die notwendigen Opfer bringen
  • und vielen mehr

Freilich gibt es auch Ignoranz, Egoismus und alle Arten von Krisengewinnler wie Betrüger, die aus der Angst isolierter alter Menschen Kapital schlagen, oder besonders Geschäftstüchtige, die lebensnotwendige Artikel zu Wucherpreisen im Internet anbieten.

Und keiner weiß, welche Ergebnisse das gigantische Sozialexperiment hat, wenn es länger dauert. Aber noch scheint es zu klappen: Gemeinsam allein sein.

Alle im generischen Maskulinum Genannten können alle Geschlechter sein.

English Version

Social distancing – the paradox of a crisis

Social distancing – until a few weeks ago this term was only meaningful to sociologists and virologists. Now we have to experience a pandemic in which society, through its representatives, decides that its individuals should move as far apart as possible. But a closer look reveals a beautiful human contradiction in social distance.

In the cohort, in the collective, in the group, even if it is only a small group, the zoon politikon, the human community, feels comfortable according to Aristotle – apart from very introverted people, perhaps. (The unease with other groups is a different story).

But now we are no longer allowed to interact in the most human way – shoulder to shoulder, so to speak. The world of work suffers because value creation often only works together. The private world is disturbed because people only relax when they are among those they like (pub, party) or who like the same things as themselves (club, sports, culture). These days, this is illegal.

Nevertheless, the term social distance currently stands above all for its opposite: social closeness. It’s clear that social distance in virus times only means keeping away from people. But it is surprising that so much physical distance brings about so much psychological closeness.

Under the dictates of distance, a closeness has developed that has nothing to do with hello kisses or drinking to close friendship, but rather with charity, respect and open-mindedness. Because the separated citizens are emotionally (even) closer to many fellow humans:

  • People who just call up and ask how you’re doing
  • Older people whose independent life is threatened, which is why younger people go shopping for them
  • Very old people and those in need of care in old people’s homes and nursing homes, whose fragility and suffering under inadequate accommodation conditions are now particularly painful
  • The carers, whose underpaid top performances are at last beginning to shine
  • The doctors with a Hippocratic oath beyond overtreatment and cosmetic surgery
  • The low-income earners keeping shops, pizza service and buses going, whose systemic relevance makes us feel warm and who, on top of everything else, give the impression that they like doing it
  • The managers of companies who try to save the company and jobs and resist takeovers
  • Textile companies that produce face masks, car manufacturers that produce respirators
  • Operators of a hotel portal, who mail comforting postcard photos
  • The DJs who – with their media library offer United We Stream – open the clubs , which even the coolest cool agers in this life would not have been able to get into
  • The artists from music and theatre, who stream their performances into the living room
  • People who don’t cancel the contract because the gym is closed at the moment
  • Teachers and university lecturers who, against all odds, try to teach the learning content online
  • Journalists who have learned their job and want to provide reliable information
  • People who wear a mask simply because they do not want to endanger others
  • People who comply with the measures and make the necessary sacrifices
  • … and many more

Of course, there is also ignorance, selfishness and all kinds of crisis profiteers such as criminals who capitalize on the fear of isolated elderly people, or very business-minded people who offer essential items at exorbitant prices on the Internet.

And nobody knows what the results of this gigantic social experiment will be if it takes longer. But it still seems to work: Being alone together.

1 Kommentar

Die jetzige Zeit bietet die Möglichkeit, mal runterzukommen und sich mit anderen Frngen „als normal“ und auch mit anderen Themen als „Corona“ zu beschäftigen. Hast Du Erfahrungsberichte, wie man als Cool-Ager noch ein Musik-Instrument lernen kann?

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