Jetzt haben wir schon so viel Lebenserfahrung und stehen trotzdem manchmal da wie der Ochs vor dem Berg. Da hilft vielleicht Ockhams Rasiermesser. Dabei geht es nicht um den Bart, sondern um ein Verfahren, sich Dinge einfacher erklären zu können. Philosophinnen und Wissenschaftstheoretiker kennen die Rasiermesser-(englisch: Razor)-Methode. Aber auch Normalsterbliche könnten sie nutzen, um mit komplexen Fragen, die in der Welt so auftauchen, besser klarzukommen.
Ockham, wer? Wilhelm von Ockham, englisch: William of Occam, war ein philosophierender Mönch im Mittelalter. Geboren wurde er in den Zwölfhundertachtzigern in – genau – Ockham, England. Er dachte meisterhaft nicht nur über die Theologie, sondern auch über Logik nach und hatte als guter Franziskaner etwas gegen klerikalen Reichtum. Jedenfalls legte er sich ausgiebig mit der Kirche an, was zu jener Zeit nicht unbedingt gut für Gesundheit und langes Leben war. So flüchtete er in die weltliche Obhut des mächtigen Papstgegners Kaiser Ludwig IV, der Bayer, und lebte bis zu seinem (vermutlichen Pest-)Tod 1347 in München. Wohl kaum einer weiß, wie die Occamstraße in Schwabing zu ihrem Namen kam.
Wer sich Ockham bildlich vorstellen möchte, der denke einfach an den Franziskanermönch William von Baskerville im Film Der Name der Rose. Umberto Eco, dem Verfasser des verfilmten Romans, diente Mönch Ockham als Vorlage.
Ob William von Ockham so gut aussah wie Sean Connery, wissen wir leider nicht. Aber sein Denkprinzip, das schließlich den Namen Ockhams Rasiermesser erhielt, ist umso besser erhalten. Es besagt im Wesentlichen: Wenn ich für ein Phänomen oder einen Sachverhalt mehrere mögliche Erklärungen habe, sollte ich der einfachsten den Vorzug geben.
Rasieren und sparen
Mit anderen Worten: Keep it simple. Daher heißt die Methode Rasiermesser auch Sparsamkeitsprinzip. Komplizierte, schwer beweisbare, zahlreiche Variablen und Hypothesen zum Erkennen der Wirklichkeit sollte man sich demnach sparen beziehungsweise „abrasieren“, um auf die einfachste und damit wahrscheinlichste Theorie zu kommen.
Die Krux der Wissenschaft (und weshalb sie so vielen Nicht-Wissenschaftlern suspekt ist) ist nämlich: Eine Theorie ist selten absolut und zweifelsfrei zu beweisen. Es gibt da noch die Methode nach Sir Popper, auf der Suche nach der Wahrheit Theorien nachweislich als falsch zu erkennen, zu falsifizieren, und auf dieser Basis eine neue Annahme aufzustellen. Das geht aber nicht so auf die Schnelle, wie es in den Niederungen des täglichen Lebens manchmal nötig ist.
Ich kenne zum Beispiel eine Frau, die von der Chemtrail-Theorie überzeugt ist. Nach dieser Theorie sind die weißen Streifen, die ein Düsenjet am Himmel hinter sich herzieht, „chemical contrails“, chemische Streifen im Rahmen eines US-Geheim-Projekts. Ähnlich wie Agrar-Flieger Pestizide aufs Feld streuen, beregnen Verkehrs- und Frachtflugzeuge die Menschheit. Da könnte ja was dran sein. Wie darauf reagieren?
Varianten der Theorie besagen, dass die Chemikalien den Treibstoffen zugesetzt werden. Andere stellen sich spezielle Sprüheinrichtungen an den Flugzeugen vor. Als Ziel des Projekts werden unterschiedliche Vermutungen angestellt: Sonne reflektieren, Menschen vergiften, Saatgut vernichten, Militäroperationen.
Es gibt allerdings noch eine Theorie: Die weißen Streifen am Himmel entstehen, wenn der aus den Triebwerken ausgestoßene Wasserdampf in der Himmelskälte zu Eiskristallen gefriert. Bei sich kreuzenden Flugrouten, hohem Verkehrsaufkommen und durch den Wind in der Atmosphäre entstehen die „geheimnisvollen“ Muster. Das ist die Theorie der Kondensstreifen – zugegebenermaßen etwas schlicht.
Also, technisch aufwendige Menschheitsvernichtung versus einfache Schulphysik: Welche Theorie würden Sie nach einer Rasur à la Ockham als die wahrscheinlichere Erklärung für die Himmelsmuster bevorzugen? Geht auch mit anderen Verschwörungstheorien.
Das Buch, das da nicht stehen darf
Ockhams Rasiermesser ist auch bei alltäglichen Phänomenen anwendbar.
Beispiel-Mysterium A: Ich stehe vor meinem Bücherregal und finde dort das Buch Der menschliche Makel von Philip Roth, obwohl ich es verliehen habe.
- Theorie 1: Wir leben in einer Matrix und durch einen Fehler in der Weltsimulation hat sich die Anwesenheit des Buchs wiederholt.
- Theorie 2: Das Buch und ich sind in ein Wurmloch geraten und stehen in der Vergangenheit vor dem Verleihen.
- Theorie 3: Im Multiversum befinde ich mich gerade in einer Parallelwelt, in der ich das Buch nicht verliehen, sondern mir ausgeliehen habe.
- Theorie 4: Ich wollte das Buch verleihen, aber die Person hatte abgewunken, da sie im Gegensatz zu mir keine US-Schriftsteller mag. Das habe ich in meinem ausgeprägten missionarischen Eifer einfach verdrängt.
So richtig beweisen lässt sich keine der Theorien. Aber nach einer scharfen Rasur hinsichtlich Logik, Überprüfbarkeit und Steilheit der Hypothesen der Theorien 1 bis 3 muss ich mich wohl mit meiner eigenen Unzulänglichkeit gemäß Theorie 4 abfinden.
Apropos amerikanischer Schriftsteller: Ein Musterbeispiel für einen, der bei der Erklärung täglicher Widerfahrnisse regelmäßig Ockhams Rasiermesser ansetzt, ist die Hauptfigur im Roman Mittelalte Männer (Original Straight Man) von Richard Russo. Amüsant und lesenswert.
Kieferbruch nach Gewitter
Ockhams Rasiermesser kann auch die Nerven schonen, siehe Beispiel-Mysterium B: Die Freundin, die keine US-Literaten mag, ist darüber hinaus ungemein pünktlich und zuverlässig. Dennoch taucht sie nicht auf und geht nicht ans Handy, als wir nach ihrem Zahnarzttermin zum Kaffee verabredet sind. Ich werde unruhig und suche nach einer Erklärung.
- Theorie 1: Einem Zahnarzt könnte schon mal die Hand ausrutschen! Kiefer durchbohrt, Not-Operation.
- Theorie 2: Heute gab es ein Gewitter! Die Freundin wurde vom Blitz getroffen.
- Theorie 3: 3000 Verkehrstote jährlich! Nun hat es sie auch erwischt.
- Theorie 4: Die Behandlung dauert länger als erwartet und das Handy ist, wie es sich in der Arztpraxis gehört, auf lautlos gestellt.
Ockham würde vermutlich die einfachere Erklärung, also Theorie 4, vorziehen und sich nicht nur schräge Hypothesen, sondern auch jede Menge Sorgen ersparen.
Rasieren, nicht umbringen
Allerdings sollte man, wie bei solchen Gerätschaften empfohlen, mit dem Rasiermesser vorsichtig umgehen. Ockham Rasiermesser ist nur eine Methode: Überflüssige, nicht wissenschaftliche, unbeweisbare Annahmen vernachlässigen, um nicht nur wahrscheinliche, sondern wahrscheinlich wahre Erklärungen zu finden – mehr nicht. Der Razor darf nicht in der Weise missbraucht werden, dass alles Komplexe plötzlich ganz einfach zu erklären ist. Man kann Annahmen nicht verwerfen, weil es einem gerade beliebt oder bequemt. Die Suche nach der Wahrheit bleibt aufwendig, anstrengend und spannend.
2 Kommentare
Das Unpünktlichkeitsbeispiel zeigt das Dilemma: Ja, meistens gibt es eine einfache, plausible und sich später als richtig erweisende Erklärung, aber ich habe schon selbst erlebt, dass es doch nicht so simpel war und dass Wurschtigkeit nicht der richtige Ansatz gewesen wäre. Ob der Mönch auch neben Logik auch sein Bauchgefühl eingesetzt hat? Liebe Autorin, hast Du einen Artikel über „Bauchgefühl“ für uns?
Da muss ich mal den Kopf fragen …