Keine Ahnung, wieso das Paradies diesen guten Ruf hat. Für Essen und Wärme ist zwar gesorgt, doch gibt es weder Ausgang noch Beschäftigung. Klingt nach Quarantäne, und zwar ohne Chatgruppe und TV-Show. Vermutlich haben Eva und Adam von der verbotenen Frucht gegessen, damit einfach mal was los ist. Denn so ein Bore-out (von Boredom für Langeweile) gilt als ebenso unerträglich wie der Burn-out der Überarbeiteten.
Oh Gott, wie langweilig! Schon die Schöpfungsgeschichte lässt also vermuten: Langeweile kann zu Depression führen, aber auch zu neuen Ideen. Es könnte sein, dass die ganze Zivilisation auf der Langeweile fußt, dem zutiefst menschlichen Gefühl.
Denn was Goethe schon ahnte: Wenn die Affen es dahin bringen könnten, Langeweile zu haben, so könnten sie Menschen werden, hat sich in den leeren Corona-Zoos ja irgendwie bestätigt. Primaten müssen nur lang genug in Menschengesellschaft sein. Dann scheinen auch sie sich zu langweilen, sobald nichts mehr los ist.
Ich will da raus
Stichwort eingesperrt: Das Leid wird noch größer, wenn die Langeweile mit einem üblen Begleiter daherkommt, der Fremdbestimmung. Davon können die ein Lied singen, die zwangsweise wenig Abwechslung erfahren. Das sind in der älteren Generation zum Beispiel
- Menschen, die aus ihrem eintönigen Alltag irgendwie nicht rauskommen, weil sie mit dem Ruhestand nichts anfangen können oder eingeschränkt mobil sind
- aktuell Virus-Risikogruppler, die sich bis auf Weiteres zu ihrem Schutz zurückziehen müssen
Wenn ein Tag wie der andere ist, denkt man an den berühmten Film mit Bill Murray in der Zeitschleife: Und täglich grüßt das Murmeltier.
Die chronische Langeweile hat offensichtlich eine andere Qualität als das temporäre Ausgebremstsein im Zehn-Kilometer-Stau oder überfüllten Wartezimmer. Um kurzfristigen Leerlauf, der einen zweifelsohne auf Hundertachtzig bringen kann, besser zu ertragen, gilt das Erlernen von Achtsamkeit als heißer Tipp. Es gibt Trainings, um im Wesentlichen Folgendes hinzukriegen: Die Situation akzeptieren und beobachten, ohne sie zu bewerten. Äußerst nützlich bei nervtötender Leerzeit.
… ist Langeweile ist Depression ist Langeweile ist Depression ist …
Doch in der chronischen Langeweile hängt man dauerhaft fest. Der kanadische Neurowissenschaftler James Danckert kam bei der Arbeit mit Hirn-Trauma-Patienten zu dem Schluss, dass Langeweile mit dem Verlust von Selbstkontrolle zusammenhängt. Es entsteht ein ungesundes Joint-Venture mit dem Krankheitsbild der Depression. Die Wechselwirkung von Langeweile und Antriebslosigkeit, Schlafstörungen, diffuser Unruhe sowie empfundener Sinnlosigkeit erzeugt schweres seelisches Leid. Wer zu depressiver Stimmung neigt, kommt mit dem Gefühl der Langeweile entsprechend schwer zurecht.
Gleichzeitig läuft nach Danckerts Messungen der Körper auf Hochtouren: Herzfrequenz und Stresshormonspiegel steigen. Das unterstreicht den Zwangsjacken-Effekt der Langeweile: Im Gelangweilten steckt jede Menge Energie, die sich nicht in sinnstiftender Erfahrung entladen darf.
Nichtstun ist nicht gleich Nichtstun
Meine Güte, warum soll Nichtstun denn so schlimm sein, fragt sich der Überbeschäftigte. Doch das ist nicht das Thema, und es wird schnell langweilig, wenn Leute die Langeweile mit Entspannung in allen ihren Ausprägungen vom Chillen bis zum Dolce far Niente verwechseln.
Zugegeben, Langeweile, ob kürzer oder länger, ist immer individuell. Der eine entflieht jedem Diaabend durch vorgetäuschtes Unwohlsein, die andere bricht den Ayurveda-Urlaub ab, weil sie nach ärztlicher Anordnung stundenlang aufs Meer schauen muss. Der Dritte hält Nichtstun locker aus, bis auch er in irgendeiner Situation dem Philosophen Arthur Schopenhauer zustimmen muss: Der allgemeine Überblick zeigt uns als die beiden Feinde des menschlichen Glückes den Schmerz und die Langeweile.
Wer sind wir? Wo kommen wir her? Warum sind wir da?
Früher oder später taucht es auf, das persönliche Gefühl unerträglicher Leere. Aber warum hält der Mensch seine Langeweile so schwer aus? Langeweileforscher sehen einen Zusammenhang mit der Sinnfrage: Wir wollen nicht auf die Idee kommen, dass das Leben nicht sinnvoll sein könnte, und schon gar nicht daran erinnert werden. Sozialpsychologen vermuten, dass Langeweile den Menschen auf geradezu existentielle Weise aus seiner Welt der Sinnempfindung aussperrt.
Wenn es bei aufgezwungener Leere gleichzeitig physisch in ihm brodelt, sucht der Mensch vehement Wege aus dieser negativen Emotion, um wieder Bedeutsames zu erleben. Studien erbrachten Hinweise, dass übermäßiges Essen, Alkoholkonsum und der Hang zu Ideologien durch Langeweile induziert sein können, sofern jemand zu diesen Formen der Ablenkung veranlagt ist.
Dem Murmeltier die Stirn bieten
Allerdings mündet Langeweile nicht zwangsläufig in Krankheit oder ungesunden Verhaltensweisen. Zum Glück gibt es andere Möglichkeiten, auf Monotonie zu reagieren. Man kann das Murmeltier austricksen, auch wenn es oft leichter gesagt als getan ist.
Anspruchsvolle fordern, dass der Mensch den Aktivitätsleerlauf nutze, indem er sich endlich wieder auf den Wert des Denkens besinnt. Das kann – dem Philosophen Descartes sei Dank – dem Dasein außerordentlich Sinn verleihen: Cogito ergo zum (Ich denke, also bin ich).
Also: Lenkst du dich noch ab oder philosophierst du schon? Der Anspruch ist hoch, manchem zu hoch und in vielen Fällen ziemlich unrealistisch. Einfacher ist es, nach klassischer geistiger Beschäftigung zu suchen, indem der Gelangweilte auf der Suche nach der eigenen Geistesgröße auf Hilfsmittel des Kulturbetriebs wie Bücher, Filme, Radiosendungen, Dramen und Ausstellungen nach seinem Gusto zurückgreift.
Aber immer nur gucken, hören, lesen, was andere geschaffen haben, kann auf die Dauer auch langweilig werden. Wie ziehe ich mich aktiv aus dem Sumpf mentaler Ödnis?
Struktur mit Highlights
Es klingt zunächst paradox: Um der Langeweile zu entkommen, könnte man seinem Tag eine regelmäßige Struktur verleihen. Das ist nur scheinbar ein Widerspruch, denn ein organisierter Tagesablauf führt weniger in die Eintönigkeit, als einfach so in die Zeit hineinzuleben und zu schauen, was kommt. Es kommt nämlich vielleicht – nichts. Also reserviert man jeweils einen bestimmten Zeitraum für Wiederkehrendes, zum Beispiel Bewegung und Sport, Kochen und Essen, Zeitung lesen, passive Ablenkung (Buch, Film, Funk, Fernsehen) und so weiter.
Der Clou ist allerdings die Abwechslung innerhalb der Struktur. Das könnten täglich unterschiedliche Unternehmungen sein, zu denen man selbst die geplante oder spontane Initiative ergreift, grob zusammengefasst in:
- Kommunikation mit Familie und Freunden, also Treffen (in Viruszeiten mit Maske und Abstand), Telefonate oder Onlineaustausch
- Gestalten als Überbegriff für kreative Aktivitäten, in denen man Sinn und Freude findet, wie Gärtnern, Schreiben (Briefe, Karten, Tagebuch oder sogar eine Autobiografie), Handarbeiten, Basteln, Veränderungen in Wohnung und Haus vornehmen und vieles mehr
- Unternehmungen je nach persönlichem Geschmack und Gegebenheiten. In Pandemiezeiten muss man sich informieren, welches Mikroabenteuer ohne Risiko möglich ist.
Ruhe statt Langeweile
Alles schön und gut, alles schon gemacht, trotzdem lungert noch ein Gefühl der Leere herum? Manchmal hilft es, einer seelischen Schieflage mit kognitiver Anstrengung zu begegnen. In diesem Fall wäre es einen Versuch wert, die Langeweile für sich umzuwerten: Kann es sein, dass dieses Gefühl mich nicht nur quält, sondern auch Chancen bietet?
In der Tat könnte inaktive Zeit ermöglichen, tiefer in sich selbst zu gehen. Je nach Typ mag man eine Meditationstechnik anwenden oder einfach über seine Befindlichkeiten nachdenken und eventuell Buch führen. Konkret könnte man zum Beispiel herausfinden, was man an diesem Tag positiv fand, was einen neugierig macht oder was man langfristig noch anstrebt. Übrige Zeit könnte so statt zur Langeweile zu mehr innerer Ruhe und neuen Plänen führen.
Helfen macht Sinn
Sinn finden viele Menschen außerdem in dem Gefühl gebraucht zu werden. Daher spricht Vieles dafür, dass sich gerade ältere Menschen ohne sonstige Verpflichtungen ein Ehrenamt suchen, das zu ihnen passt. Vor der Entscheidung, sich für eine bestimmte Tätigkeit zu engagieren, sollte jedoch gründlich überlegt werden, wie viel Energie und Zeit längerfristig zur Verfügung stehen.
Was, wenn man sich zu nichts von alledem aufraffen kann? Wenn in Situationen der Leere bereits deutlich depressive Gefühle mitschwingen, sollte man sich nicht scheuen, Vertraute oder Psychotherapeuten zur seelischen Unterstützung heranzuziehen. Gemeinsame Gespräche, Unternehmungen oder Therapien können dabei helfen, sich aus der Endlosschleife zu befreien.
Im Film gab es ein Happy End: Im Laufe der Murmeltier-Tage erkannte der übellaunige, zynische Wetteransager nach einigen schmerzhaften Bauchlandungen, dass er auf die immer gleichen Erlebnissen einfallsreich und positiv reagieren muss. So gelang es ihm, nicht nur der Zeitschleife zu entkommen, sondern auch ein besserer und glücklicherer Mensch zu werden.
P. S. Dieser Artikel wurde – wie sollte es anders sein – aus Langeweile geschrieben.