Genießen – Was ist das und wenn ja wie?

Viele WissenschaftlerInnen, ÄrztInnen, und andere Interessierte engagieren sich dafür, dass die Menschen möglichst fit und gesund älter werden können. Wichtig dabei: die Ernährung. Mit Meinungen und Erkenntnissen dazu kann man inzwischen ganze Bibliotheken füllen. Obwohl man prinzipiell nichts gegen gesundes Älterwerden einzuwenden hat, tönt es doch aus Volkes Kehle: Nicht noch mehr Ernährungstipps! Dann schlägt die Stunde derer, die vor der Apokalypse der westlichen Zivilisation schlechthin warnen: Gesundheitswahn! Religionsersatz! Essstörung! Und das Schlimmste: Wir verlernen das Genießen!

Genießen

Aber was ist das eigentlich, Glück und Essen? Nähern wir uns dem Thema unter zwei Schwerpunkten:

Schwerpunkt eins: Gesund

Lanzenträger der Gesundesser ist der amerikanische Arzt Michael Greger. Er sagt: Die Haupttodesursache in Amerika sei nicht die Genetik seiner Einwohner, sondern die amerikanische Art sich zu ernähren – prägnant benannt mit der Abkürzung SAD für Standard American Diet. 

Sein Lösungsvorschlag: Rauchverzicht und mehr Bewegung zusammen mit gesünderer Ernährung aus Obst, Gemüse, Vollkorn, Kräutern, Gewürzen und weniger Fleisch beziehungsweise ohne tierische Produkte. 

Genießen

Unter der bewusst überspitzten Maxime How not to die plädiert Greger für abwechslungsreiches Essen auf Pflanzenbasis. Er räumt freilich ein, dass wir manchmal einfach gerne Ungesundes essen. Dafür hat er ein Bild: Fettiges, Salziges, Gesüßtes als Achterbahn. Hin und wieder macht‘s Spaß. Doch die Dauerfahrt im Rollercoaster wird so ungesund, dass sie dann doch nicht mehr lustig ist. 

Schwerpunkt zwei: Genuss

Wer möchte, kann Ratschläge zum fett- und zuckerarmen Essen als die Verhinderung des Genießens sehen. Diese Meinung vertritt medienwirksam der deutsche Arzt Dr. Gunter Frank, der – ebenso wie Greger – jede Menge Studien auffährt. Doch in seinem Fall, um genau das Gegenteil zu behaupten: Krank werde man nicht vom Essen, sondern nur von einer erblichen Veranlagung und vom Stress.

Der in den Medien als Ernährungsexperte Vorgestellte beruft sich auf die Evolutionsbiologie des Menschen. Dessen Verdauungsapparat hätte sich verkleinert und das Gehirn vergrößert. Pflanzen wollen nicht gegessen werden, daher hätten sie jede Menge Gift gegen ihre Fressfeinde. Man denke an die Kartoffel, die man garen muss, um sie genießbar zu machen. Er argumentiert gerne mit Blick auf die Kleinen: Kinder mögen instinktiv Fritten, weil in dieser Form die Kartoffeln am stärksten erhitzt sind. In einer Fernsehsendung sprach er von vegan ernährten Kindergartenkindern, die aufgrund ihres angeborenen Fleischinstinktes die benachbarten Mülltonnen nach tierischem Essen durchwühlt hätten.

Thesen, mit denen man zur Ikone des Veganer-Bashing und zum Provozier-Hansel in Talkshows werden kann.

Er rät zum Thema Ernährung, man solle sich von keinem etwas aufschwätzen lassen. Allerdings weiß er, wie gesundes Essen funktioniert. Nämlich durch das, was er unter Genießen versteht.

Genießen

Frank hat sich mit der lebensfrohen Sterneköchin Léa Linster – Bocuse-geehrt für Stopfleber, Lammrücken und Madeleines – zusammengetan, um vor dem Niedergang des Genießens zu warnen. Der Tenor: Koche traditionell und mit Liebe, und deine Ernährungsprobleme sind Vergangenheit. Der Titel des gemeinsamen Buches verkündet die Erkenntnis: Karotten lieben Butter.

Wobei wiederum Italiener, denen wir die kulinarische Genussfähigkeit nun wirklich nicht absprechen wollen, sie auch in Olivenöl ganz lecker finden.

Das lässt schon an dieser Stelle vermuten: Genießen ist etwas sehr Individuelles. 

Die Butter-Apologeten behaupten: Es werde zu viel vorgeschrieben und moralisiert. Und wir hätten die Fähigkeit verloren, normal mit Lebensmitteln umzugehen. Aber was ist normal? Oder vielmehr: Was wünscht man sich als normal?

Da haben Greger und Frank mehr gemeinsam, als man denkt:

  • Kein Fastfood und keine Fertiggerichte 
  • Aufhören, wenn man satt ist 
  • Genuss ist, was mir guttut
  • Genießen ist, wenn die Speise bekömmlich ist
Was lernen wir vom Butterfreund?
  • Auf Qualität achten, auf Bio und glückliche Tiere (wobei man sich bei Stopfleber über das Tierglück streiten kann), wählen, was hochwertig ist
  • Zeit nehmen, langsam einkaufen, kochen, essen
  • Geschmackssinn wiederentdecken und schärfen

Gegen mehr Qualität, Zeit und Sinnesschärfe hätte auch der gesundheitsbewusste Herr Greger nichts einzuwenden.

Was lernen wir zusätzlich vom Gesundesser?

Auch wenn sich beim Thema ungesunde Ernährung die hamburger-cola-lastige Standard American Diet aufdrängt: Die These Fastfood ist schlecht, Traditionsküche ist gut muss nicht unbedingt stimmen.

Auch mit Liebe zerlassenes Fett ist fett. Selbst, wenn es einem immer gut bekommen ist: Auch der Bluthochdruck nach vielen Jahren Kochkunstgenuss ist und bleibt ein Bluthochdruck. Wenn wir uns den Diabetes mit Sternekoch-Mandelhippen angefuttert haben, ist er trotzdem ein Diabetes.

Erst mal Genuss definieren

Bei der Aussage, dass wir nicht mehr genießen können, sollte man vielleicht definieren, was für jeden Einzelnen Genuss ausmachen könnte.

Oft mit Glück und Wohlgefühl gleichgesetzt scheint Genießen das zu sein, was andere Menschen als ungesund kritisieren oder einschränken wollen.

Dieser Denkfehler lässt sich auch bei dem Genuss-Begriff eines weiteren Talkshow-Philosophen vermuten. Der Österreicher Robert Pfaller jubelt als Genussbeispiel bevorzugt das Rauchen als elegantes, erotisches Kulturgut und Merkmal der freien Lebensentfaltung derartig hoch, dass es selbst der Tabakwirtschaft peinlich werden könnte. Oder allgemeiner: Das, was Pfaller Gesundheitsterrorismus nennt, steht seiner Meinung nach dem guten Leben entgegen. (Auch falls dieses eventuell vorzeitig und unschön enden sollte).

An dieser Stelle kommt manchmal ein weiteres Argument gegen die ungeliebte sogenannte Selbstoptimierung: Lasst den Leuten doch die Freiheit, sich krank zu essen – ungefähr so, wie sich auf der Autobahn mit 260 zu zerlegen oder sich rund um die Uhr die Welt schön zu trinken.

Gegenvorschlag: Genuss und gesund müssen kein Gegensatz sein

Wir könnten heute sehr viele Möglichkeiten zum Genuss ergreifen. 

Wenn wir auf Qualität achten, uns Zeit nehmen, und unsere Sinne wieder schärfen, dann ist es vielleicht nicht nur die Butter, die Genuss bereitet, sondern auch das Obst, Gemüse und Vollkorn der gescholtenen Gesundbeter. 

Genießen

An Vorschlägen zum Umlernen und Zubereiten mangelt es – dem Internet sei Dank – wahrlich nicht.

Anders ausgedrückt: Wieder Genießen lernen könnte heißen: Mach ordentlich Butter dran! Aber auch: Lass dir deine Zoodles schmecken!

Nicht entweder Gesundheit oder Genuss, sondern beides. 

Dutzende „allerbeste“ vegane Kartoffelsalatrezepte können nicht irren. Dass sich Pflanzenkost sogar zum Genießen auf allerhöchstem Niveau eignet, haben einige Sterneköche unter Beweis gestellt, in Deutschland allen voran Andreas Krolik.

Neu genießen

Wenn sich so viele Menschen durch Ernährungsratgeber unter Druck gesetzt fühlen, könnte man sich fragen: Vielleicht sollen wir das Genießen nicht verlernen, sondern eher neu lernen.

Hier soll nicht übersehen werden, dass bei individuellen Essgewohnheiten sehr starke Mächte wie die Biochemie des Körpers in Form von hormonellen Anweisungen und psychologische Mechanismen wie Gewissen, Rebellion oder Belohnung am Werk sein können. 

Genießen

Dennoch oder gerade deshalb könnte als Ziel angestrebt werden: Nicht nicht genießen, sondern neu genießen. 

Das schließt Fastfood und industrielle Fertiggerichte ebenso aus wie einseitige, extreme und zum Teil absurde Ernährungsformen, aber auch den Rückfall in althergebrachte Kochgewohnheiten. 

Genussempfinden muss nicht zwingend gesellschaftlichen, kulturellen Normen unterliegen, sondern kann sich ändern: Wenn man tierisches Fett und die tägliche Zuckermenge langsam zurückfährt, schwindet möglicherweise die Lust darauf. Wenn man Gesundes abwechslungsreich und lecker zubereitet, können neue Gelüste entstehen.

Genießen kann vieles sein

Genießen hat freilich nicht nur was mit Essen zu tun. Man kann auch Schönheit, Kultur und soziales Miteinander genießen. Aber auch solche ideellen Genüsse lassen sich bestens mit dem Essen verbinden, zum Beispiel:

  • Die ästhetischen Freuden beim Einkaufen auf einem farbenfrohen Wochenmarkt
  • Das Staunen bei der Recherche über Warenkunde oder andere Essenskulturen
  • Die Gemütlichkeit und Geborgenheit bei gemeinsamen Mahlzeiten

Was könnte uns sonst noch dazu einfallen? Vielleicht:

  • Genuss ist, wenn sich auch die Menschen, die man liebt, gesund ernähren.
  • Genuss ist, wenn keine anderen Geschöpfe für das Essen leiden mussten.
  • Genuss ist, zum Beispiel durch weniger Fleischverzehr mit den Weltressourcen schonender umzugehen.

Das riecht ja schon wieder nach dem Moralisieren, gegen das in der Talkshow geschimpft wird? Nö. Das riecht nach der leckeren Suppe, die wir für morgen vorbereiten statt fernzusehen.

Genießen

English Version

Enjoyment – What is that and if so how?

Many scientists, doctors and other interested people are committed to ensuring that people can grow older as fit and healthy as possible. The important thing here is nutrition. Entire libraries can now be filled with opinions and findings on this subject. Although in principle there is nothing to be said against healthy ageing, there is still a lot of talk from the people: No more dietary advice! Then the hour strikes for those who warn of the apocalypse of western civilization par excellence: health mania! Religious substitute! Eating disorder! And worst of all, we forget how to enjoy it!

But what is it, really, happiness and food? Let us approach the topic under two main focuses:

Focus one: Healthy

Lance bearer of the healthy eaters is the American doctor Michael Greger. He says: The main cause of death in America is not the genetics of its inhabitants, but the American way of eating – concisely named with the abbreviation SAD for Standard American Diet.

His proposed solution is to give up smoking and take more exercise together with a healthier diet consisting of fruit, vegetables, whole grains, herbs, spices and less meat or animal products.

Under the deliberately exaggerated maxim How not to die, Greger pleads for varied plant-based food. Of course, he admits that sometimes we simply enjoy eating unhealthy food. He has an image for this: fatty, salty, sweetened food as a rollercoaster. Now and then it’s fun. But the continuous ride in the roller coaster becomes so unhealthy that it is no longer fun.

Focus two: Pleasure

If you want, you can see advice on eating low-fat and low-sugar food as the prevention of enjoyment. The German doctor Dr. Gunter Frank, who – just like Greger – is involved in a great many studies, has made this opinion known to the media. But in his case, to claim the exact opposite: one does not get sick from eating, but only from a hereditary predisposition and stress.

The nutrition expert presented in the media refers to the evolutionary biology of humans. According to his theory, the human digestive system has become smaller and the brain has become larger. Plants do not want to be eaten, therefore they have plenty of poison against their predators. Think of the potato that you have to cook to make it edible. He likes to argue with the little ones in mind: Children instinctively like fries because that’s the form in which potatoes are heated the most. In a TV show he spoke of vegan-fed kindergarten children who, because of their innate meat instinct, would have rummaged through the neighboring garbage cans for animal food.

Theses with which one can become an icon of vegan bashing and a provocative Hansel in talk shows.

He advises on the subject of nutrition, one should not let anyone talk you up. However, he himself knows how healthy food works. Namely by what he understands by enjoyment.

Frank has teamed up with the cheerful star chef Léa Linster – Bocuse-honoured for foie gras, saddle of lamb and madeleines – to warn of the decline of enjoyment. The message: Cook traditionally and with love, and your nutritional problems are a thing of the past. The title of the common book announces the realization: Carrots love butter.

Whereby, however, Italians, whom we really don’t want to deny the culinary enjoyment, find them quite delicious in olive oil.

This already suggests at this point: Enjoyment is something very individual.

The butter apologists claim that too much is prescribed and moralized. And we have lost the ability to handle food normally. But what is normal? Or rather, what do you wish for as normal?

Greger and Frank have more in common than one might think:

  • No fast food and no ready meals
  • Stop when you are full
  • Pleasure is what does me good
  • Enjoyment is when the food is digestible
What do we learn from the butter lover?
  • Paying attention to quality, organic food and happy animals (although you can argue about the animal happiness with foie gras), choosing what is high quality
  • Take time, shop, cook and eat slowly
  • Rediscover and sharpen your sense of taste

Even the health-conscious Mr. Greger would have nothing against more quality, time and sharpness of senses.

What additional lessons can we learn from the healthy eater?

Even if the hamburger-cola-heavy Standard American Diet is the obvious choice when it comes to unhealthy nutrition: The claim that fast food is bad and traditional cuisine is good does not necessarily apply.

Even fat melted with love is fat. Even high blood pressure after many years of enjoying the art of cooking is and remains high blood pressure. If we have fed ourselves diabetes with star chef madeleines, it is still diabetes.

First define enjoyment

In stating that we can no longer enjoy, one should perhaps define what could constitute enjoyment for each individual.

Often equated with happiness and well-being, enjoyment seems to be what other people want to criticize or limit as unhealthy.

This error in thinking can also be assumed in the concept of enjoyment of another talk show philosopher. The Austrian Robert Pfaller, as an example of enjoyment, celebrates smoking as an elegant, erotic cultural asset and characteristic of the free development of life to such an extent that even the tobacco industry could become embarrassed. Or more generally: what Pfaller calls health terrorism is, in his opinion, contrary to the good life. (Even if this life should possibly end prematurely and unpleasantly).

At this point, there is sometimes another argument against the criticized so-called self-optimization: Leave people the freedom to eat themselves sick – just like killing themselves on the highway at 260 km/h or sipping a nice drink around the clock.

Counterproposal: Enjoyment and health need not be opposites

We could take a lot of opportunities for enjoyment today.

If we pay attention to quality, take our time, and sharpen our senses again, then perhaps it is not only butter that gives pleasure, but also the fruit, vegetables and wholemeal of the scolded health worshippers.

There is certainly no lack of suggestions for relearning and preparing – thanks to the Internet.

In other words: Learning to enjoy again could mean: Put some butter on it! But also: Enjoy your Zoodles!

Not either health or enjoyment, but both.

Dozens of „very best“ vegan potato salad recipes can’t be wrong. Some star chefs have proven that plant-based food is even suitable for the very highest level of enjoyment, in Germany above all Andreas Krolik.

New enjoyment

When so many people feel stressed by nutrition guides, one might ask: Maybe we should not forget how to enjoy, but rather learn anew.

Here it should not be overlooked that very strong forces such as the biochemistry of the body in the form of hormonal instructions and psychological mechanisms such as conscience, rebellion or reward can be at work in individual eating habits.

Nevertheless, or precisely because of this, a target could be set: Not to not enjoy, but to enjoy anew.

This excludes fast food and industrial ready meals as well as one-sided, extreme and sometimes absurd forms of nutrition, but also the relapse into traditional cooking habits.

The feeling of enjoyment does not necessarily have to be subject to social and cultural norms, but can change: If you slowly reduce animal fat and the daily amount of sugar, the desire for it may disappear. If one prepares healthy, varied and tasty food, new desires can arise.

Enjoying can be many things

Of course, enjoyment has not only something to do with food. You can also enjoy beauty, culture and social interaction. But such non-material pleasures can also be ideally combined with food, for example:

  • The aesthetic pleasures of shopping at a colourful weekly market
  • The amazement during research on product knowledge or other food cultures
  • The cosiness and comfort of shared meals

What else could we come up with? Maybe:

  • Enjoyment is when the people you love also have a healthy diet.
  • Enjoyment is when no other creatures had to suffer for the food.
  • Enjoyment is, for example, when less meat is consumed and world resources are used more sparingly.

Does this smell again like the moralizing that is being scolded in the talk shows? Nope. It smells like the delicious soup we’re preparing for tomorrow instead of watching TV.

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