Ikigai – das Geheimnis gesund steinalt zu werden?

Auf der japanischen Insel Okinawa ist es üblich, so um die Hundert zu werden und bis zum sanften Entschlafen unverschämt fit zu sein. Kein Wunder, dass die restliche Welt nach dem Altersgeheimnis der Inselbewohner fragt. Sicher, die Okinawaer haben immer schönes Wetter, essen Fisch mit Gemüse statt Burger mit Pommes und finden Schutz vor Stress in stabilen sozialen Strukturen. Dazu kommt aber etwas, wobei westliche Glücksforscher besonders aufhorchen. Okinawa-Cool-Ager haben kein Wort für Rentner, aber sehr wohl eines für das, wozu es sich jeden Morgen aufzustehen lohnt: Ikigai.

Ikigai aus iki (Leben) und gai (Wert/Sinn) ist ein Begriff der japanischen Lebensphilosophie, den es seit Jahrhunderten gibt und auf Okinawa offenbar selbstverständlich gelebt wird. Menschen mit Ikigai haben etwas, was ihrem Leben Sinn und ihrer Psyche größte Zufriedenheit verleiht. Selbstverständlich hat jeder sein persönliches Ikigai, und als die stressgeplagten Nachkriegsmenschen das Ikigai-Prinzip neu entdeckten, mussten sie feststellen, dass es gar nicht so einfach zu finden ist.

Und wofür stehen Sie morgens auf?

Je nach Kultur, Zeitgeist und psychologischer Sichtweise gibt es nämlich sehr unterschiedliche Vorstellungen von Ikigai. Das Gefühl von Lebenssinn kann zum Beispiel stark auf sozialen Normen beruhen. Demnach stellt sich Lebenszufriedenheit ein, wenn der Einzelne seine Aufgabe in der Gesellschaft perfekt erfüllt. Das bedeutete für die Babyboomer der japanischen Gesellschaft, dass der Mann in der Arbeit und die Frau im Kinderkriegen und der Sorge für Haushalt und Familie ihr Ikigai finden.

In der Folge hatten Männer nach dem Renteneintritt ein echtes Problem. Um der Gesellschaft und insbesondere ihren Frauen nicht durch depressives Herumhängen für den Rest des Lebens zur Last zu fallen, wurden sie aufgefordert, sich eine neue Basis für Ikigai zu suchen. Bevorzugt wurde erneut der Dienst an der Gemeinschaft, zum Beispiel in der Freiwilligenarbeit, empfohlen. Der japanische Vizepremier vertrat die Ansicht, Alte, die sich nicht mehr einbringen, sollten lieber sterben.

Freilich stieß die Vorstellung, nur in dem Paradox sozial erzwungener Freiwilligkeit Lebenssinn zu finden, auch in Japan früh auf Kritik. Ikigai sollte auch darin liegen, salopp gesagt sein Ding zu machen. In dieser Interpretation eignete sich der Ikigai-Begriff für den Export in eher egozentrierte Kulturen. Die Menschen in westlichen Gesellschaften verknüpften die fernöstliche Idee des Sinnempfindens mit den eigenen kulturellen Glücksvorstellungen und hießen Ikigai im Reich der Selbstverwirklichung willkommen.

In anderen Worten: Jeden Morgen aufzustehen lohnt sich für das, was mich glücklich macht, und weniger für das, was andere glücklich macht. In der reinen Form funktioniert diese Einstellung allerdings nur für Narzissten. Natürlich ist auch der Ich-Kultur-Westler ein Gemeinschaftsmensch und benötigt ein bestimmtes Maß an sozialer Anerkennung zu seinem Glück. Es kann nun mal äußerst befriedigend sein, sich nützlich zu machen.

Auf der Suche nach dem Ikigai

Wie bringt man diese unterschiedlichen Gefühle unter einen Hut? In der Arbeitswelt und generellen Glückssuche des Westens wurde der Begriff Ikigai zum Liebling der Coaches und Lebensberater. Sie arbeiten mit einem Ikigai-Modell, das unterschiedliche Zufriedenheitsfaktoren in Einklang bringen soll.

Ikigai
Erweitertes Ikigai-Venn-Diagramm in Anlehnung an Marc Winn (2014) auf der Grundlage von Andres Zuzunaga (2011)

Demnach soll man sich auf der Suche nach dem erfüllenden Lebenssinn vier zentrale Fragen stellen:

  • Was mache ich gern?
  • Was kann ich gut?
  • Was verschafft mir Einkommen?
  • Was kann die Welt von mir brauchen?

Um zu den Antworten zu gelangen, bedarf es oft einiger Anläufe und intensiver Selbstanalyse mit vielen Einzelfragen.

In der Schnittmenge aller vier Antworten, also in dem, was ich sowohl liebe als auch am besten kann, was mir Einkommen bringt und gesellschaftlich gebraucht wird, liegt meine Voraussetzung, Ikigai zu empfinden.

In nur teilweisen Schnittmengen fehlen bestimmte Zufriedenheitsfaktoren. Beispiele:

  • Eine gut bezahlte, wertschöpfende Tätigkeit, die ich gut kann, aber eigentlich nicht mag, hinterlässt ein Gefühl der Leere.
  • Eine Beschäftigung, die ich liebe, beherrsche und Einkommen bringt, von der die Welt aber nichts hat, kann mir nutzlos vorkommen.
  • Wenn ich keine alternative Einkommensquelle habe, wird mir meine leidenschaftlich und perfekt ausgeübte, sozial wertvolle, aber unbezahlte Fertigkeit zur brotlosen Kunst. Stichwort Arbeitslosigkeit.
  • Ich mag eine Arbeit, die die Welt brauchen kann und bekomme sogar Geld dafür, bin von der Qualität meiner Fertigkeiten allerdings nicht überzeugt. Es bleibt ein Gefühl der Verunsicherung.
Zu westlich?

Selbstverständlich ist das individuelle Ikigai sehr von der jeweiligen Persönlichkeit eines Menschen abhängig. Außerdem ist die im Westen geläufige Methode zur Ermittlung des Lebenssinns stark von den Werten einer Leistungsgesellschaft geprägt. So stößt das Ikigai-Mengen-Diagramm bei einigen Autoren auf Kritik, da es nicht Ikigai im japanischen Sinne verkörpere. Der japanische Neurowissenschaftler Ken Mori etwa stellt andere Faktoren für Ikigai in den Vordergrund:

  • Klein anfangen
  • Loslassen lernen
  • Harmonie und Nachhaltigkeit leben
  • Die Freude an kleinen Dingen entdecken
  • Im Hier und Jetzt sein

Dennoch ist das Ikigai-Venn-Modell sehr verbreitet, weil es einen guten Zugang bietet, um über die eigenen Lebenszusammenhänge zu reflektieren.

Ikigai für Ältere

Es ist offensichtlich, dass sich das persönliche Ikigai im Laufe eines Lebens aus geänderten Faktoren ergeben muss, insbesondere in der zweiten Lebenshälfte. Wenn man aus dem Berufsleben ausscheidet und mit seiner Rente zufrieden ist, kann der Aspekt der Bezahlung in den Hintergrund rücken. Wenn die Kinder groß sind, wird die Verantwortung für den Nachwuchs geringer. Körperliche Einschränkungen können einen zwingen, etwas kürzer zu treten.

Doch hat die deutsche Sprache für diesen Lebensabschnitt ein Wort parat, das mit Ikigai eher nicht vereinbar ist: Ruhestand.

Auch wenn Älterwerdende in einer Leistungsgesellschaft nicht schmerzlos in die neue Lebensphase hineingleiten und schon gar nicht nach Okinawa-Style einfach weiter das tun, was sie immer schon gemacht haben – persönliche Talente, Leidenschaften und das Potenzial, etwas Sinnvolles zu Familie und Gesellschaft beizutragen, sind beim Älterwerden nicht plötzlich verschwunden. Im Gegenteil.

Ich mach weiter

So kann man seine Fertigkeiten weiter anwenden, sei es zum Spaß, als Senior-Experte oder in einem anderen Ehrenamt, man kann seiner Lieblingsbeschäftigung in einem Hobby frönen, sein Engagement für die Familie intensivieren und vielleicht sogar neue Leidenschaften entdecken. In der Schnittmenge, also der gekonnten Kombination zufriedenstellender Aktivitäten sowie familiärer und gesellschaftlicher Rollen, könnte das Lebensgefühl des Cool Agers liegen, für das er jeden Morgen gerne aufsteht.

Das ist schon mal schön, aber kann es das Leben wirklich verlängern? Ob Menschen mit Ikigai länger leben, wurde unter anderem in einer japanischen Studie von 2008 untersucht. Ikigai wurde dabei definiert als das Gefühl, dass das eigene Leben lebenswert ist. Demnach konnte eine niedrigere Mortalität durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei den Probanden festgestellt werden, die die Frage, ob sie ein Ikigai hätten, mit ja beantwortet hatten.

Allerdings besteht – wie bei allen Mortalitätsstudien – das empirische Problem, andere lebensverlängernde Faktoren herauszurechnen. Also hält man es wohl am besten mit den Bewohnern von Okinawa: Bei allem Ikigai kann ein gesunder Lebensstil mit viel Bewegung und gesundem Essen jedenfalls nicht schaden.

Quellen: Marc Winn, What is your IKIGAI?, 2014; Andres Zuzunaga, Proposito, 2011; Ken Mogi, Ikigai, 2019

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