Boomer erinnern sich vielleicht an etwas Besonderes am Heiligabend ihrer Kindheit: Nachmittags hockten wir vor dem Fernseher und guckten Warten aufs Christkind. Kater Mikesch, Hase Cäsar und andere Legenden unseres damaligen Medienkonsums halfen mit lustigen Geschichten bei einer der unangenehmsten Situationen des menschlichen Daseins, dem Warten.
Mit Warten ist hier nicht das Abwarten gemeint, zum Beispiel wenn man auf das Abkühlen des frisch gebrühten Tees wartet, damit er endlich trinkbar wird. Zu unterscheiden ist auch die Pause, mit der man eine Tätigkeit aus eigenem Antrieb unterbricht, bis man Lust oder Kraft hat weiterzumachen.
Es geht um Warten, das nervt und stresst. Dieses Warten ist unfreiwillig und wird dem Wartenden aufgezwungen: in der Telefon-Hotline, an der Haltestelle, am Bahngleis, in der Arztpraxis, auf dem Bürgeramt, in der Warteschlange vor Kassen, Schaltern etc. Ist es nur der Zeitdruck in der modernen Welt, oder warum empfinden wir Warten so sehr als Zumutung?
Weil der, der uns warten lässt, über unsere Zeit gebietet. Es entsteht also eine Hierarchie zwischen dem Wartenden und dem Warten-Lassenden. Hier wird gnadenlos Macht ausgeübt. Wie soll man sich da locker machen?
Warte, warte nur ein Weilchen …
Am anschaulichsten wird die soziale Natur des Wartens bei Hierarchie-Hickhack, wo es auch vordergründig um Macht und Status geht.
„Pünktlichkeit ist die Höflichkeit der Könige“, weil Letztere sie gesellschaftlich nicht nötig haben.
Umgekehrt scheinen manche Mächtige Machtspielchen mittels Warten nötig zu haben. So hat 2022 der französische Präsident Macron den auf die Minute pünktlichen deutschen Bundeskanzler fünf Minuten vor dem Elysée-Palast warten lassen. Man hatte sich vorher über die deutsche Regierung geärgert. Das war aber noch charmant. Es gibt eine Liste, wen der derzeitige russische Präsident wie lange warten ließ: Angela Merkel über vier Stunden, den Papst eine Stunde und die Queen vierzehn Minuten.
In einer Sendung über royales Protokoll war neulich zu erfahren, wie es bei Hochzeiten mit königlichen Gästen bei der Toilettenpause zugeht. Selbstverständlich zelebriert man die ultimative Organisationsform des zivilisierten egalitären Wartens: die Schlange. Doch ließ uns eine Dame der Hocharistokratie wissen: Wenn eine Königin muss, müssen alle anderen erst mal nicht müssen.
Fürs Leben im Alltag gibt es kein klares Protokoll. Der Wartestress ist allgegenwärtig. Früher ließ uns der Türsteher vor dem Disco-Eingang schmoren, heute hocken wir in der Praxis. Die Ärztin lässt sicher nicht aus Bosheit warten, und dennoch kommt der lukrativere Privatpatient früher dran. Die Bahn versucht immerhin, die Demütigung ihrer wartenden Kunden durch Zwischeninformationen zu lindern.
Sorry, aber …
Im Warten steckt also ein ganzer Kosmos an gestörter Harmonie. Instinktiv begreift jeder, dass man den Hierarchiezustand der Übergeordnetheit des Warten-Lassenden und der Untergeordnetheit des Wartenden ausgleichen sollte. Dafür gibt es die Entschuldigung und die Ausrede, wobei beide eng miteinander verknüpft sein können. Die Ausrede kann richtig gut gelogen oder auch faul sein. Allerdings kann der, der warten musste, mit etwas Großmut schon den schlichten Versuch einer Entschuldigung anerkennen. Wie der Wartende den Grund oder die Absicht hinter dem Warten-Lassen beurteilt, ist äußerst bedeutsam für das persönliche Stress-Empfinden.
Das hat seine Grenzen. Zum Beispiel bei der „Entschuldigung“ meiner Bekannten, die mich 20 Minuten am Parkeingang hat warten lassen: „Ach, du weißt doch, dass ich immer ein bisschen unpünktlich bin“. In klassischer Täter-Opfer-Umkehr sollte ich mich ihrer Meinung nach in der Einschätzung ihrer Persönlichkeitsmerkmale geirrt haben. Auf weitere Kostproben habe ich gerne verzichtet.
Man kann sich in der Zeit verschätzen, aber dem überpünktlichen Menschen, der lieber das Risiko eingeht, selbst warten zu müssen, ohne dass ihm ein Zacken aus der Krone fällt, spreche ich genuine Noblesse zu.
Worauf wartet ihr noch?
Um Macht geht es bekanntlich auch zwischen den Geschlechtern. Ein Parole könnte sein: „Frauen, worauf wartet ihr noch?“ Zumal historisch das Warten weiblich und das Warten-Lassen männlich interpretiert sind. Der Jäger und Sammler und später der Mann mit moderneren Berufen verlässt das Heim, die Frau wartet auf seine Rückkehr.
Die Urmutter des weiblichen Wartens finden wir in der griechischen Mythologie, wo Penelope zwanzig Jahre auf ihren Gatten Odysseus wartet. Das heißt nicht, dass die Wartende untätig ist. Schließlich erwehrte sich die treue Penelope der zahlreichen Freier, indem sie vorgab, erst ein Totentuch fertig weben zu müssen (das sie Nacht für Nacht wieder aufknüpfte). In der patriarchalen Gesellschaftsstruktur hat die häusliche Frau (je nach Einkommensstand) ebenfalls genug zu tun. Doch über die Zeitstruktur des Lebens bestimmt sie nicht, sie wartet.
Andere Länder, anderes Warten
Weltläufige Menschen argumentieren gerne, Warten sei nur eine Frage der Bewertung. Es gäbe schließlich andere Kulturen, in denen der Bus nicht pünktlich abfährt, sondern wenn nach Meinung des Fahrers genügend Plätze besetzt sind. Alle warten und haben (angeblich) kein Problem. Oder man lässt die Verabredung warten, weil man auf dem Weg dorthin einen Freund getroffen hat, den man unmöglich kurz abfertigen konnte. Der soziale Frieden kann ungestört bleiben, da es alle so machen, es also die Regel ist. Klar, verstehen wir, funktioniert aber nicht bei uns. Vielleicht sind wir weniger entspannt oder wir sind es schlicht nicht gewöhnt und willens, Fremdbestimmung zu akzeptieren.
Die Sozialisierung in der hiesigen Lebensorganisation garantiert den mehr oder minder großen Stress, wenn wir warten müssen. Freilich gibt es eine Alternative, dem Warten-Müssen die Macht zu nehmen: Im Sinne der persönlichen Freiheit lasse ich sausen, worauf ich warten muss; ich steige aus. Wohl dem, der es sich leisten kann, es ein wenig nach Anarchismus riechen zu lassen. Dieses Heft des Handelns kann man selten in die Hand nehmen.
Meist ist das zu Erwartende so wichtig oder erstrebenswert, dass wir nicht nicht warten können. Wir sind dem Wartezwang hilflos ausgeliefert. Sind wir das?
Womit wir wieder zum Warten aufs Christkind kommen. Warten ist unangenehm, aber ich kann es angenehm gestalten. Das heißt nämlich: über die fremdbestimmte Zeitspanne etwas Kontrolle zurückgewinnen, Zeit nicht tot zu schlagen, sondern in lebendige Zeit zu verwandeln, von Passivität zur Aktivität, vom „Opfer“ zum „Täter“, von der Sinnlosigkeit zum Sinnvollen gelangen.
Ob es vor der Bescherung nun die Fernsehgeschichten oder Bastel- und Spiele-Nachmittage waren, wir können aus der Kindheit lernen: Warten, die nervige alltägliche Situation, kann durchaus erträglich sein, wenn man etwas daraus macht. Wer Wartezeit mit eigener Tätigkeit füllt, „beherrscht“ buchstäblich die Kunst des Wartens. Der wahre Wartekünstler kann erreichen, dass er das Ende der Wartezeit nicht mehr herbeisehnt.
Das Geheimnis ist, auf Wartesituationen vorbereitet zu sein. Buch, Zeitschrift und Strickzeug waren gestern. Heute drängt sich als mobiles Beschäftigungswerkzeug das Smartphone auf, da man es auch bei spontan entstehenden Wartezeiten immer dabei hat. Wenn man sich im öffentlichen Raum umschaut, scheint fast keiner mehr zu warten. Doch Vorsicht beim Social-Media-Chat. Wird meine Nachricht als gelesen angezeigt, aber nicht beantwortet, warte ich sozusagen beim Warten.
Warten mit Hirnschimmel
Also lieber jemanden anrufen, ein Online-Buch lesen. Ich kann sozusagen Zwischenziele verfolgen, die mich zum Hauptziel „Ende der Wartezeit“ tragen. Nicht gemeint ist das ziellose Herumwischen auf TikTok etc.. Dabei erreicht man keine produktiv zufriedenstellenden Zwischenziele wie Kontaktaustausch, Lesevergnügen oder Informationsgewinn, sondern Mini-Glücksmomente im Gehirn, die den Neurologen Sorgen bereiten. Im englischen Sprachraum wissen die Wisch-Süchtigen bereits, wie sie ihr Tun benennen müssen: „I was brain-rotting again“ (etwa: „Ich habe mal wieder mein Hirn vergammeln lassen.“) Auch nicht empfehlenswert: Wartezeit mit Doomscrolling überbrücken.
Womit wir beim besten Werkzeug für gekonntes Warten sind. Auch das Gehirn hat man schließlich immer dabei (sollte man zumindest). Die höheren Künste, die fremdbestimmte Wartezeit zurückzuerobern, finden wir in uns selbst: Denken, Meditation, Achtsamkeit, bewusste Langeweile.
Nichtstun durch Denken funktioniert am besten, wenn man Warten nicht als lästig, sondern eher als erquickliche Pause empfindet. Wenn es ein Spruch sein darf: Warten Sie noch oder leben Sie schon? Manche Menschen fühlen sich durch Warten sogar angenehm entschleunigt.
Denken heißt freilich nicht Grübeln, sondern Reflektieren. Man kann üben, den Switch von Wartezeit auf wohltuendes In-sich-Gehen so zu automatisieren, dass Ärger übers Warten gar nicht erst aufkommt. Das gilt besonders auch fürs Warten auf den Schlaf, das uns der Körper manchmal aufzwingt.
Der amerikanische Komponist John Cage hat ein Stück namens 4’33“ komponiert. Zu hören ist vier Minuten und dreiunddreißig Sekunden lang nichts beziehungsweise das „Konzert“ der jeweiligen Umgebungsgeräusche, wo auch immer der Zuhörer das Stück rezipiert. Hier darf freiwillig und aktiv gedacht werden. Eine Zumutung? Eine fantastische Wartezeitbeherrschungsübung!
Warten wie auf der Wartburg
Eine besondere Herausforderung sind jedoch längere Wartezeiten, etwa das Warten auf eine Diagnose, auf Prüfungsergebnisse oder das Ende einer Pandemie. Was machte Martin Luther, als er auf der Wartburg darauf wartete, dass er ohne Lebensgefahr in sein reformatorisches Leben zurück kann? Er kam auf die Idee, die Bibel zu übersetzen und mal eben die Grundlagen für unser heutiges Deutsch zu schaffen.
Umwidmung der Wartezeit in etwas Positives gelingt durch Warten-Können. Der Nutzen erschließt sich nicht unmittelbar, aber Kreative wissen, dass der Einfall nicht erzwungen werden kann, sondern meist aus der Leere kommt. Wenn man Warten mit Nichtstun füllt, kann Großes entstehen.
Freilich bleibt Warten immer noch Warten, denn die Zeit kann zwar persönlich gefüllt, aber nicht eigenständig beendet werden. Zu allen Methoden, Warten vom Stress zu Wohlbefinden zu verwandeln, gehört eine Prise von dem, was sich Cool Ager ohnehin vorgenommen haben: Gelassenheit.