Stigma – der fiese Kumpel von Corona

Stell‘ Dir vor, es ist Corona und alle sind drin. Nämlich in einer Solidargemeinschaft, die in Krisenzeiten zusammenhält. Allerdings macht das Virus eben nicht alle gleich, sondern manche schneller tot. Zum Beispiel statistisch die Älteren. Gestern noch der coole Ager, heute schon Risikogruppe. Wann fängt die Mitgliedschaft eigentlich an? Laut RKI bereits ab 50. Als wäre die gute alte Altersdiskriminierung nicht schon genug. Jetzt kommt es Arm in Arm mit Corona: das Stigma.

Stigma kommt aus dem Griechischen und bedeutet Brandmal. Aufgedrückt bekamen es über die Jahrtausende Menschen, die Normen nicht entsprachen. Zur allgemeinen Sichtbarkeit wurden Haare geschoren (Hure) und die Hand abgehackt (Dieb). Beim sozialen Stigma heute geht es subtiler zu. Die Normverstöße sind anders, also man gehört zum Beispiel zu einer Gruppe (Ältere) oder hat eine bestimmte Krankheit wie Covid-19. Man darf Haare und Hände behalten, wird aber irgendwie aus dem Spiel geschmissen.

Leisen Protest gibt es immerhin bei eklatanten Spielverweisen. Gegenwind bekam bekanntermaßen ein baden-württembergischer Oberbürgermeister, der sich durchaus vorstellen kann, die Älteren (RKI-gemäß ab 50?) und chronisch Kranken in die Dauerquarantäne zu beordern, damit die gesunden Jungen guten Gewissens ihrer kontaminierten Wege gehen können. Nicht zu vergessen die Befürchtung, verschwenderischerweise Menschen zu retten, die ohnehin bald tot wären. Staunen erzeugte auch ein amerikanischer Vizegouverneur, der meinte, die Älteren sollten mit Freuden sterben, um den Jüngeren und der Wirtschaft keine unnötigen Hindernisse in den Weg zu legen. Er selbst würde sich gerne für seine Enkel opfern.

Möglich, dass der heldenhafte US-Patriot zu viele amerikanische Spielfilme gesehen hat. Ein beliebtes Handlungsmotiv ist der sinnvolle Tod eines Menschen mit ernsten Schäden wie Krankheit oder Alter. Für eine gute Sache begeht die tragische Filmfigur dann suicide by cop, indem sie den Polizisten zum Schein bedroht und erschossen wird, oder auch suicide by gangster. So etwa Clint Eastwood in Gran Torino als krebskranker alter Kauz, der sich von bösen Buben erschießen lässt, um sie hinter Gitter zu bringen und so sein Viertel endlich von der Bande zu befreien.

Nicht nur der Ethikrat, auch viele Mitbürger verstehen unter der Beachtung der Menschenrechte, dass man Sprüche wie Die Älteren haben ihr Leben ja schon hinter sich nicht einfach so herunterschluckt. Und trotzdem erhält in der Corona-Krise der ältere Mensch erneute das Stigma, die Gesellschaft zu belasten.

Stigma

Warum sind coole Ager von ihrem neuen Prädikat „Risikogruppe“ so unangenehm berührt? Weil Worte und Einstellungen das aufgeklärte moderne Altersbild, an dem sie gerne aktiv mitzeichnen, hässlich übermalen. Wenn Sprachgebrauch wie Risikogruppe, Corona-Opfer, und (ökonomische) Gefahr für die Jungen und Gesunden mit dem Alter gleichgesetzt wird, nennt man das Framing. Der Framing-Effekt besagt, dass bestimmte Formulierungen und Wörter bestimmte Haltungen beeinflussen. Auch wenn es nie einer wörtlich ausspricht, könnte die Botschaft so interpretiert werden: Die Alten sind schlecht für uns.

Das könnte der Grund dafür sein, dass sensible Kommentatoren der gesellschaftlichen Corona-Folgen meinen, an die „Wertigkeit“ der Älteren erinnern zu müssen. Ältere Menschen besäßen schließlich nicht nur Vernunft und Lebenserfahrung , sondern hätten den schönen Wohlstand ja aufgebaut et cetera.

Isolationspflicht für Ältere – Schutz oder Stigmatisierung?

Mag auch ein (gar nicht so großer) Anteil der Bevölkerung im höheren Alter fragil und besonders schützenswert sein – wie fair ist es aber, Ältere als demographischen Block zu entmündigen? Viele ältere Menschen leben allein und würden in einer oktroyierten Isolation zur Einsamkeit verpflichtet. Alternsforscher warnen vor Depression und Suizidgefahr.

Dabei ist Teilhabe solch ein schönes Politikerwort. Solidarität könnte in Corona-Zeiten auch bedeuten, Junge und Ältere verstärkt zusammenzubringen. Nicht räumlich selbstverständlich, sondern durch neue Kommunikationsmedien, die mehr Lebensfreude und Selbstbestimmung ermöglichen. Da dies bei Alleinlebenden oft nicht im Familien- und Freundeskreis organisiert werden kann, sollten Initiativen wie die Hotline-Anbieter von Silbernetz und digitale Türöffner wie Wege aus der Einsamkeit und Mutmacherin mehr mediale und öffentliche Unterstützung und vor allem Nachahmer bekommen. Politiker und Verbände könnten mehr Ressourcen für die Vernetzung bereitstellen.

Solidarität unterstützt das freiwillige Daheimbleiben, das Stigma des Wegsperrens konterkariert es und führt allenfalls zu einem Automatismus, durch den sich Ältere am Ende selbst für schwächer erklären als sie es wirklich sind.

#ichbinkeinvirus

In die Stigma-Falle geraten neben den Älteren auch andere Menschen, die sich jenseits der Normerwartung „jung und gesund“ befinden: chronisch Kranke sowie Infizierte jeden Alters und – kaum fassbar – medizinische Helfer, die weit weg vom Balkon beklatscht und in der Nähe von den Nachbarn gemieden werden. Betroffene berichten unzählige Varianten von Diskriminierung unter dem Hashtag #ichbinkeinvirus.

Auch die Folgen der sozialen Ausgrenzung Infizierter können lebensbedrohlich sein. Wer befürchten muss, von seinem Umfeld wie ein Paria behandelt zu werden, geht vielleicht gar nicht erst zum Testen oder ignoriert oder verheimlicht seine Krankheit. Die Logik: Lieber ohne Quarantäne andere anstecken als geächtet zu werden. Außerdem verschlimmert soziale Stigmatisierung nachweislich den Krankheitsverlauf.

Worum es dabei geht, ist mit einer anderen Infektionskrankheit treffend beschrieben: „Aussatz“, wie in der deutschen Sprache die Krankheit Lepra bezeichnet wurde. Aussetzen beziehungsweise Ausgrenzen fällt umso leichter, wenn ein nicht normerfüllendes Merkmal wie eine Krankheit mit der ganzen Person gleichgesetzt wird. Wie am Anfang bei Aids. HIV galt als die selbst verschuldete Plage der sexuell Haltlosen und Junkies. Erst jahrelange Aufklärung und Appelle für mehr Menschlichkeit konnten das Stigma von HIV entschärfen.

Auch die Weltgesundheitsorganisation hat schon früh auf die Gefahren hingewiesen, die das Stigma „Corona“ mit sich bringt, und plädiert in einem Leitfaden für mehr support und kindness. Die WHO warnt unter anderem ausdrücklich vor der stigmatisierenden Wirkung scheinbar harmloser Wörter. Menschen als Corona-Verdächtige oder Superspreader einer Seuche zu titulieren, ist sprachliches Haare abschneiden.

Last but not least ein kleines Framing-Beispiel: Spanien wird die Spanische Grippe nie mehr los, zumindest sprachlich. Aus Spanien wurde zwar zuerst von der Krankheit berichtet. Doch ihren Ursprung hatte die Pandemie-Katastrophe von 1918 bis 1920 nach wissenschaftlichen Hypothesen vielleicht in China, vielleicht in Frankreich, wahrscheinlich in den USA. Aber nicht in Spanien.

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