Reiseverbot. Ein Drama, was wir dieses Jahr alles verpassen

Reiseverbot. Der Wandervogel in uns fragt bang: Wann geht diese Käfigtür wieder auf? Egal, wohin und wie weit wir 2020 wollten – von der Traumreise bleibt erst mal nur der Traum, vom Sehnsuchtsort nur die Sehnsucht.

Wo nur gibt es Trost? Melancholie ist das Vergnügen, traurig zu sein, sagte Victor Hugo. Also stürzen wir uns in die menschliche Vorstellungskraft und malen uns einfach aus, was wir alles verpassen:

Zum Beispiel das Kofferpacken. Dafür gibt es, grob gesagt, zwei Varianten:

  • Schon Wochen vorher packen bei langfristig hohem Adrenalinspiegel, der ja bekanntlich der ungesündere ist
  • Zehn Minuten vor Abreise packen bei kurzzeitigem Ausstoß von Stresshormonen und folgerichtig was Wichtiges vergessen oder dreckige Wäsche einpacken müssen
Reiseverbot

Verhindert wird dieses Jahr jeglicher Reisebeginn, der bei Bus-, Bahn- oder Flugzeugmobilität meist zwei attraktive Optionen besitzt:

  • Zu früh dran sein
  • Zu spät dran sein

Reiseverbot verhindert die Flugangst, die wir nicht haben. (16 Prozent der Bevölkerung bekennen sich zur Flugangst, die anderen leiden lieber schweigend)

Was unser weiter entgeht:

  • Die Erleichterung, dass die es noch am Boden bemerkt haben, dass der Flieger kaputt ist. Nicht so schlimm, dass die Ersatzmaschine noch auf Teneriffa steht
  • Die Demut, den Flug doch noch antreten zu dürfen. Auf dem Mittelplatz mit dem Schweißgeruch des adipösen Schnarchers daneben und den Nintendo-Kindern dahinter, die beim Düdel-Düdel-Düdel-Spielgewinn immer in die Rückenlehne boxen, wenn man gerade eingeschlafen ist
  • Die plötzliche Unsicherheit, ob man wirklich den Herd ausgemacht hat
  • Der Nachtflug mit ganz viel Nacht und ganz wenig Schlaf, dicken Beinen und dem Verdacht, gleich an Thrombose zu sterben

Das dürfen wir dieses Jahr nicht:

  • Beim Gewitteranflug feststellen, dass sich die Reise-Kaugummis im Kulturbeutel im aufgegebenen Koffer befinden
  • Einfach mal von der Drogenfahndung am Zielflughafen zur Volluntersuchung gebeten werden
  • Grün im Gesicht ankommen, aber ankommen. Schön hier. Sich erholen. Dann das Nationalgericht mit Hühnchen essen. Feststellen, dass die Schachtel mit dem Elektrolyte-Medikament in dem verlorenen Koffer ist, der immer noch nicht ins Hotel nachgesendet wurde
  • Feststellen, dass die Rückflugversicherung bei einer Wurzelbehandlung nicht greift
  • Feststellen, dass man gegen das Falsche geimpft ist

Was wir dank Reiseverbot vermissen werden:

  • Das motivierte Navi, das den direkten Weg zum Hotel empfiehlt – durch eine Flussfurt, wo der Irrfahrer von den Warnsignalen seines festsitzenden Miet-BMW betört wird wie Odysseus vom Gesang der Sirenen
  • Das ruhige Superior-Deluxe-Zimmer, dessen einziges Fenster auf die Piazza mit Vespa-Autobahn führt
  • Die Kakerlaken (oder sind es Tausendfüßler?), die Baustelle und die unerfreuliche Feststellung, dass das Selbstbild vom unbeschwerten Urlaubs-Lebenskünstler schwindet
  • Die erfolgreiche Reklamation mit dem Umzug in ein insektenfreies Zimmer im Abluftstrom der Restaurantküche
  • Die Klimaanlage mit einem bekannten Song in Verbindung zu bringen: I can’t live with or without you
Reiseverbot
  • Die Feststellung, dass Schlagermusik das Blut unangenehm zum Kochen bringen kann. Und Aufzugmusik, Strandbarmusik und Kinderanimationsmusik auch
  • Die Chlor-Allergie aus dem Hotel-Pool zusammen mit dem Sonnenbrand. Die folgenden Tage als sehr trockener Streuselkuchen und echter Hingucker
  • Andere Urlauber. Die Liegestühle, die immer besetzt sind. Die beschämende Strategie, den besten Platz selber zu kapern. Das Klischee des Handtuchbesetzers vermeidend die dreckigen Badelatschen drauflegen. Die überraschende Erkenntnis, dass es auch Flipflop-Diebe gibt

Reiseverbot trifft auch Kreuzfahrer schwer, denn es fehlt die Gelegenheit,

  • wegen Sturms keinen einzigen Hafen anzulaufen
  • den netten Schiffsarzt bei der Arbeit zu erleben
  • im Rekordtempo drei Kilo zuzunehmen oder abzunehmen (je nach Seegang)

Was noch? Keine Chance auf gewohnheitsmäßige Erlebnisse wie

  • Stau auf der Hinfahrt
  • Stau auf der Rückfahrt

oder

  • Die Erkältung vor dem Urlaub
  • Die Erkältung während des Urlaubs
  • Die Erkältung nach dem Urlaub
Meine Reise, mein Pech und ich

Deine Ironie, liebe Autorin, kannst du dir sparen, sagt jetzt der wahre Urlaubsschwärmer. Alles Pillepalle! Nur eine Reise mit Pannen ist eine zünftige Reise!

Dann erweitern wir mal unseren Vorstellungshorizont mit einer unterhaltsamen Lektüre zuhause, am besten mit wohligem Schauer auf dem sicheren Liegestuhl oder im wanzenfreien Bett:

Nie wieder heißt das von Hans Magnus Enzensberger herausgegebene Buch, in dem namhafte Schriftsteller ihre Reiseberichte nur deswegen niederschreiben konnten, weil sie es knapp verpasst hatten abzustürzen, zu erfrieren oder ermordet zu werden.

Wer nicht losfährt, verpasst eben auch die Möglichkeit, mit Heldengeschichten zurückzukehren. Coping nennen die Psychologen die Fähigkeit, sich durch stressige Situationen durchzukämpfen. Und wer wäre da nicht auch ein bisschen stolz? Schließlich ist es nicht so spektakulär, wenn man dieses Jahr erzählen kann, dass man so lange durch den Park spaziert ist, bis endlich die Blutblase da war.

Doch wer Coping braucht, dieses heldische Gefühl über sich hinausgewachsen zu sein, hat in Pandemie-Zeiten ja auch zuhause reichlich Gelegenheit.

 

2 Kommentare

Und wer mit Tante Lieschen nur einmal im Jahr per Urlaubskarte in Kontakt tritt, kann diese Routine, sofern als lästig empfunden, jetzt endlich einschlafen lassen. Wem das Kartenschreiben fehlt, sendet Urlaubsgrüsse aus Balkonien und kann dabei Restkarten verwerten oder selbst kreativ welche gestalten (Collagen?)

Vielen Dank für den Tipp! Restkarten verwerten kann sehr befriedigend sein. Ich schreibe gleich mal eine, und zwar an einen Bekannten, der im Altenheim gerade nicht besucht werden darf.

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