Am Tag, als der erste Golfkrieg ausbrach, machte ich mal wieder Überstunden. Auf der Heimfahrt mit der Hamburger Hochbahn, die dem Fahrgast reichlich Einblicke in die beleuchteten Räume der vielstöckigen Altbauten gewährte, bot sich mir um Punkt zwanzig Uhr ein einzigartiges Bild: In Dutzenden Wohnzimmern saßen Menschen in angespannter Körperhaltung vor der Tagesschau. Das waren noch Zeiten. Heute macht man Doomscrolling.
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Endlos scheinen nicht nur die schlechten Nachrichten, sondern sind auch die Informationsmöglichkeiten zu jeder Zeit an jedem Ort. So können wir uns stundenlang auf der Suche nach neuesten Szenarien von Verhängnis und Untergang (Doom) durch die digitalen Geräte wischen (scrollen). Auch die Quellen sind schier unerschöpflich – vom Online-Kanal eines vertrauenswürdigen Mediums bis zum Fake-news-Verbreiter. Freilich können wir die klassischen Formen der analogen TV- und Funknachrichten und Print-Medien konsumieren, doch wir warten nicht mehr darauf. Das Internet ist einfach schneller. Entscheidend für das Doomscrolling ist das suchtartige unaufhörliche Suchen und Finden negativer Nachrichten. Das kann gefährlich werden.
Das andere Extrem, mit den zahlreichen Krisenmeldungen umzugehen, ist die Abschottung. „Ich schau‘ und hör‘ keine Nachrichten mehr.“ Ob Ignoranz auch zu mehr Zuversicht führt, sei dahingestellt. Im Gegensatz zum Abstinenzler, der sich von einer nachrichtenfreien Vogel-Strauß-Haltung sein Glück verspricht, saugt der Fan des Doomscrolling alle News auf wie ein Schwamm. Erst mal gut, denn durch umfassende Information versuchen wir ja, ein wenig Kontrolle über die Krisensituation zu gewinnen. Und dennoch verliert auch der Nachrichtensüchtige. Denn das Übermaß an Negativem kann ihn psychisch und körperlich krank machen.
Welt und Zukunft scheinen nur noch böse, Geist und Körper sind ständig unter Strom. Buchstäblich: Es fließt das Stresshormon Cortisol. Hoffnungslosigkeit breitet sich aus, im schlimmsten Fall entstehen Depression und Angstzustände. Inzwischen ist der Zusammenhang zwischen Doomscrolling und Gesundheit in Studien nachgewiesen.
Vom Großproblem zum Smalltalk
In meinem Friseursalon, wo nicht nur der Preis für einen Haarschnitt, sondern auch die kommunikative Kompetenz einiger Mitarbeiter erstaunlich hoch ist, habe ich mich kurz nach dem Überfall auf Israel über die schrecklichen Ereignisse unterhalten. Die Friseurin und ich tauschten aus, was wir über das Massaker und mögliche Hintergründe und Folgen in Erfahrung gebracht haben. Nach einer Weile schwankte die Stimmung zwischen Verstörung und Verzweiflung. So unangemessen es klingt, aber wir schalteten schließlich um in den ultimativen Smalltalk des Friseurwesens: Urlaub. Neuropsychologen würden vermutlich sagen: Alles richtig gemacht.
Experten empfehlen, nach der Beschäftigung mit schlechten Nachrichten eine Pause einzulegen und etwas ganz anderes zu machen. Denn so sehr das menschliche Hirn nach den neuesten „bad news“ lechzt – Wissenschaftler nennen dies den „negativity bias“ – so sehr brauchen wir Bewältigungsstrategien, um unsere psychische und physische Verfassung zu schonen.
Wie unterbreche ich mein Verlangen nach Doomscrolling?
Wie bei allen suchtartigen Problemen, sind gute Ratschläge oft schwer umzusetzen. Aber bei notorischem Doomscrolling sollte man Folgendes versuchen:
- Sagen Sie Stopp und schalten Sie regelmäßig die unablässigen Neuigkeitsangebote der Online-Medien ab.
- Setzen Sie sich fürs Scrollen bestimmte und begrenzte Zeiten.
- Sie wollten gerade wieder dem Impuls zum Doomscrolling nachgeben? Schalten Sie genau jetzt um auf Ablenkung: Hobby ausüben, arbeiten, lesen etc.
- Vermeiden Sie es, im stillen Kämmerlein zu verzweifeln. Gute soziale Kontakte helfen gegen das Deprimiertsein. Sie können sehr wohl über die schlechten News reden, mit Friseuren oder Freunden, …
- … um dann zusammen Nachrichtenpause zu machen und anderen Themen eine Chance zu geben.
- Nutzen Sie bewusst den Vorteil der analogen Medien, nämlich deren zeitliche Begrenztheit. Die Tagesschau und der Brennpunkt sind nach einer Viertelstunde zu Ende, die Zeitung ist irgendwann gelesen. Der Nachrichtenstrom ist erst mal gestoppt.
- Wählen Sie Nachrichtenquellen bewusst. Achten Sie auf Vertrauenswürdigkeit. Rambazamba-Sender oder schlecht informierte bzw. manipulative Social-Media-Teilnehmer verdienen sie nicht.
- Ein gutes Mittel gegen Stress ist guter Schlaf. Verzichten Sie vor allem vor dem Zubettgehen auf jegliches Doomscrolling. Lieber eine Geschichte mit Happy End lesen oder selber ein paar Tagebuchzeilen darüber schreiben, was an diesem Tag für Sie gut gelaufen ist oder wofür Sie dankbar waren. Das negativ aufgeladene Gehirn kann so mit positiven Inhalten überschrieben werden.
2 Kommentare
Diese Woche hat jemand eine interessante Idee in den Ring geworfen: Supervision für Friseure. Diese armen Menschen werden von ihren Kunden mit beliebigen (und nicht immer erwünschten, manchmal emotional belastenden) Themen konfrontiert und es bedarf eines beachtlichen Moderationsgeschicks, das Gespräch auf ein neutrales Terrain zu lenken. Nicht immer gelingt es und der Dienstleister erfährt ungefragt Dinge, die ihn nachhaltig belasten.
Fazit: Unbeteiligte Dritte einzubinden ist nicht ideal – sprecht mit Freunden und Familie, von denen Ihr wisst, dass sie damit umgehen können und mit denen der Switch zu fröhlichen Themen leicht fällt!
Vielen Dank für deinen Kommentar, aber in diesem Fall handelte es sich wirklich um das Thema in aller Munde. Die Friseurin wollte was wissen … Ansonsten finde ich das von dir angesprochene – andere – Thema extrem spannend. Nicht nur die armen Friseure, auch die armen Danebensitzende und Nichtwegkönnende sind – wenn auch seltener – betroffen. Als solche hab ich schon die ganz große Oper im Salon erlebt inklusive hysterischem Anfall. Und ja: die Friseurin hat unglaublich souverän reagiert – Chapeau!