Am Tag, als der erste Golfkrieg ausbrach, machte ich mal wieder Überstunden. Auf der Heimfahrt mit der Hamburger Hochbahn, die dem Fahrgast reichlich Einblicke in die beleuchteten Räume der vielstöckigen Altbauten gewährte, bot sich mir um Punkt zwanzig Uhr ein einzigartiges Bild: In Dutzenden Wohnzimmern saßen Menschen in angespannter Körperhaltung vor der Tagesschau. Das waren noch Zeiten. Heute macht man Doomscrolling.
Weltfinanzkriseumweltzerstörungpandemieputinkrieginflationnahostkriegklimakriserezessionbildungsmiseregewaltzunahmecyberangriffeterrorwarnung…
Endlos scheinen nicht nur die schlechten Nachrichten, sondern sind auch die Informationsmöglichkeiten zu jeder Zeit an jedem Ort. So können wir uns stundenlang auf der Suche nach neuesten Szenarien von Verhängnis und Untergang (Doom) durch die digitalen Geräte wischen (scrollen). Auch die Quellen sind schier unerschöpflich – vom Online-Kanal eines vertrauenswürdigen Mediums bis zum Fake-news-Verbreiter. Freilich können wir die klassischen Formen der analogen TV- und Funknachrichten und Print-Medien konsumieren, doch wir warten nicht mehr darauf. Das Internet ist einfach schneller. Entscheidend für das Doomscrolling ist das suchtartige unaufhörliche Suchen und Finden negativer Nachrichten. Das kann gefährlich werden.

Das andere Extrem, mit den zahlreichen Krisenmeldungen umzugehen, ist die Abschottung. „Ich schau‘ und hör‘ keine Nachrichten mehr.“ Ob Ignoranz auch zu mehr Zuversicht führt, sei dahingestellt. Im Gegensatz zum Abstinenzler, der sich von einer nachrichtenfreien Vogel-Strauß-Haltung sein Glück verspricht, saugt der Fan des Doomscrolling alle News auf wie ein Schwamm. Erst mal gut, denn durch umfassende Information versuchen wir ja, ein wenig Kontrolle über die Krisensituation zu gewinnen. Und dennoch verliert auch der Nachrichtensüchtige. Denn das Übermaß an Negativem kann ihn psychisch und körperlich krank machen.
Welt und Zukunft scheinen nur noch böse, Geist und Körper sind ständig unter Strom. Buchstäblich: Es fließt das Stresshormon Cortisol. Hoffnungslosigkeit breitet sich aus, im schlimmsten Fall entstehen Depression und Angstzustände. Inzwischen ist der Zusammenhang zwischen Doomscrolling und Gesundheit in Studien nachgewiesen.
Vom Großproblem zum Smalltalk
In meinem Friseursalon, wo nicht nur der Preis für einen Haarschnitt, sondern auch die kommunikative Kompetenz einiger Mitarbeiter erstaunlich hoch ist, habe ich mich kurz nach dem Überfall auf Israel über die schrecklichen Ereignisse unterhalten. Die Friseurin und ich tauschten aus, was wir über das Massaker und mögliche Hintergründe und Folgen in Erfahrung gebracht haben. Nach einer Weile schwankte die Stimmung zwischen Verstörung und Verzweiflung. So unangemessen es klingt, aber wir schalteten schließlich um in den ultimativen Smalltalk des Friseurwesens: Urlaub. Neuropsychologen würden vermutlich sagen: Alles richtig gemacht.
Experten empfehlen, nach der Beschäftigung mit schlechten Nachrichten eine Pause einzulegen und etwas ganz anderes zu machen. Denn so sehr das menschliche Hirn nach den neuesten „bad news“ lechzt – Wissenschaftler nennen dies den „negativity bias“ – so sehr brauchen wir Bewältigungsstrategien, um unsere psychische und physische Verfassung zu schonen.
Wie unterbreche ich mein Verlangen nach Doomscrolling?
Wie bei allen suchtartigen Problemen, sind gute Ratschläge oft schwer umzusetzen. Aber bei notorischem Doomscrolling sollte man Folgendes versuchen:
- Sagen Sie Stopp und schalten Sie regelmäßig die unablässigen Neuigkeitsangebote der Online-Medien ab.
- Setzen Sie sich fürs Scrollen bestimmte und begrenzte Zeiten.
- Sie wollten gerade wieder dem Impuls zum Doomscrolling nachgeben? Schalten Sie genau jetzt um auf Ablenkung: Hobby ausüben, arbeiten, lesen etc.
- Vermeiden Sie es, im stillen Kämmerlein zu verzweifeln. Gute soziale Kontakte helfen gegen das Deprimiertsein. Sie können sehr wohl über die schlechten News reden, mit Friseuren oder Freunden, …
- … um dann zusammen Nachrichtenpause zu machen und anderen Themen eine Chance zu geben.
- Nutzen Sie bewusst den Vorteil der analogen Medien, nämlich deren zeitliche Begrenztheit. Die Tagesschau und der Brennpunkt sind nach einer Viertelstunde zu Ende, die Zeitung ist irgendwann gelesen. Der Nachrichtenstrom ist erst mal gestoppt.
- Wählen Sie Nachrichtenquellen bewusst. Achten Sie auf Vertrauenswürdigkeit. Rambazamba-Sender oder schlecht informierte bzw. manipulative Social-Media-Teilnehmer verdienen sie nicht.
- Ein gutes Mittel gegen Stress ist guter Schlaf. Verzichten Sie vor allem vor dem Zubettgehen auf jegliches Doomscrolling. Lieber eine Geschichte mit Happy End lesen oder selber ein paar Tagebuchzeilen darüber schreiben, was an diesem Tag für Sie gut gelaufen ist oder wofür Sie dankbar waren. Das negativ aufgeladene Gehirn kann so mit positiven Inhalten überschrieben werden.
English version
Doomscrolling – the addiction to bad news
On the day the first Gulf War broke out, I was working overtime again. On my way home on the Hamburg elevated railway, which gave passengers a good view of the lit rooms of the multi-story buildings, I saw a unique scene at exactly 8 p.m.: In dozens of living rooms, people sat in tense postures in front of the evening news. Those were the days. Today, people do doomscrolling.
GlobalfinancialcrisienvironmentaldestructionpandemicPutinwarinflationMiddleEastconflictclimatecrisisrecessioneducationcrisirisingviolencecyber attacksterroralerts…
Not only does bad news seem endless, but so too are the possibilities for obtaining information at any time and in any place. We can spend hours scrolling through our digital devices in search of the latest scenarios of doom and gloom. The sources are also virtually inexhaustible – from the online channel of a trusted media to fake news purveyors.
Of course, we can still consume traditional forms of analog TV and radio news and print media, but we no longer wait for them. The internet is simply faster. The decisive factor in doomscrolling is the addictive, incessant search for and discovery of negative news. This can be dangerous.
The other extreme way of dealing with the numerous crisis reports is isolation. I don’t watch or listen to the news anymore. Whether ignorance leads to greater confidence remains to be seen. In contrast to the abstainer, who promises himself happiness by adopting a news-free ostrich attitude, the fan of doomscrolling absorbs all the news like a sponge. At first glance, this seems like a good thing, because we try to gain a little control over the crisis situation by staying well informed. And yet, even news junkies lose out. The excess of negativity can make them mentally and physically ill.
The world and the future seem nothing but evil, and the mind and body are constantly under stress. Literally: the stress hormone cortisol is flowing. Hopelessness spreads, and in the worst case, depression and anxiety arise. Studies have proven the link between doomscrolling and health.
From major problem to small talk
In my hair salon, where not only the price of a haircut but also the communication skills of some of the staff are astonishingly high, I talked about the terrible events shortly after the attack on Israel. The hairdresser and I exchanged what we had learned about the massacre and its possible background and consequences. After a while, the mood fluctuated between dismay and despair.
As inappropriate as it sounds, we eventually switched to the ultimate hairdressing small talk: vacations. Neuropsychologists would probably say: everything done right. Experts recommend taking a break and doing something completely different after dealing with bad news. Because as much as the human brain craves the latest “bad news” – scientists call this the “negativity bias” – we need coping strategies to protect our mental and physical well-being.
How can I interrupt my desire to doom scroll?
As with all addictive behaviors, good advice is often difficult to implement. But if you are a notorious doomscroller, you should try the following:
- Say stop and regularly turn off the incessant news feeds from online media.
- Set specific and limited times for scrolling.
- Were you about to give in to the urge to doomscroll again? Switch to a distraction right now: pursue a hobby, work, read, etc.
- Avoid despairing in silence. Good social contacts help combat depression. You can talk about the bad news with your hairdresser or friends, for example.
- Then take a break from the news together and give other topics a chance.
- Consciously take advantage of the benefit of analog media, namely their limited duration. The daily news and the news summary are over after fifteen minutes, and the newspaper will be read at some point. The news stream is stopped for the time being.
- Choose your news sources carefully. Pay attention to trustworthiness. Sensationalist broadcasters or poorly informed or manipulative social media participants do not deserve your attention.
- A good remedy for stress is good sleep. Avoid any doomscrolling, especially before going to bed. Instead, read a story with a happy ending or write a few lines in your journal about what went well for you that day or what you were grateful for. This allows the negatively charged brain to be overwritten with positive content.
2 Kommentare
Diese Woche hat jemand eine interessante Idee in den Ring geworfen: Supervision für Friseure. Diese armen Menschen werden von ihren Kunden mit beliebigen (und nicht immer erwünschten, manchmal emotional belastenden) Themen konfrontiert und es bedarf eines beachtlichen Moderationsgeschicks, das Gespräch auf ein neutrales Terrain zu lenken. Nicht immer gelingt es und der Dienstleister erfährt ungefragt Dinge, die ihn nachhaltig belasten.
Fazit: Unbeteiligte Dritte einzubinden ist nicht ideal – sprecht mit Freunden und Familie, von denen Ihr wisst, dass sie damit umgehen können und mit denen der Switch zu fröhlichen Themen leicht fällt!
Vielen Dank für deinen Kommentar, aber in diesem Fall handelte es sich wirklich um das Thema in aller Munde. Die Friseurin wollte was wissen … Ansonsten finde ich das von dir angesprochene – andere – Thema extrem spannend. Nicht nur die armen Friseure, auch die armen Danebensitzende und Nichtwegkönnende sind – wenn auch seltener – betroffen. Als solche hab ich schon die ganz große Oper im Salon erlebt inklusive hysterischem Anfall. Und ja: die Friseurin hat unglaublich souverän reagiert – Chapeau!