Verschickungskinder – das #MeToo der Babyboomer

Aktualisiert 10.07.2023

Die Kinder sollten sich erholen und kamen verstört zurück. Das MeToo-Erlebnis vieler älterer Menschen ist ihr einstiger Aufenthalt in einem Verschickungsheim. „Me too“ – „ich auch“ – sagen immer mehr ehemalige Verschickungskinder und werden gehört. Wochenlange Konfrontation mit Sadismus, Zwang und Angst vor „Erziehungsmethoden“, mit denen heute ein Staatsanwalt viel zu tun hätte, war kein Einzelschicksal. Hunderte Heime, Tausende Opfer. Auch sexueller Missbrauch ist zu beklagen.

Waren auch Sie „in Erholung“? Dann interessiert Sie vielleicht das Forum der ehemaligen Verschickungskinder. Besuchen Sie die Internetseite des Vereins zur gemeinsamen Aufarbeitung und Erforschung der Kinderverschickung. Opfer der Zustände in Verschickungsheimen der Nachkriegszeit berichten ihre Erlebnisse, vernetzen und organisieren sich.

Sie erreichten bereits, dass die Missstände und deren Folgen bundesweit erforscht und aufgearbeitet werden sollen. Auch bei der persönlichen Verarbeitung der lange zurückliegenden Erfahrungen kann diese neue Initiative helfen. Die Erlebnisberichte gehen in die Tausende und sind empörend bis zutiefst erschütternd – ein öffentlich einsehbarer „Safe Space“ mit den Schilderungen traumatisierender Erlebnisse.

Verschickungskinder
Nach der Kinderlandverschickung

In den Fünzigerjahren, als das Nachkriegsdeutschland sich berappelte, entstand die gesetzlich geregelte, von Krankenkassen und verschiedenen Trägern bezahlte Verschickungsorganisation von Kindern an die See oder in die Berge. Diese war gewissermaßen die Fortsetzung der sogenannten Kinderlandverschickung.  So hießen in den Vorkriegsjahren der Transport von Kindern zur Erholung auf dem Land und während des Zweiten Weltkriegs die Evakuierung von Kindern aus den vom Luftkrieg bedrohten Städten. Nach dem Krieg wurde aus dem Versenden von Kindern eine Art Wohlfahrtsindustrie. Heime sanierten sich mit den Geldern. Umso mehr als an Personal und Essen gespart wurde.

Opfer organisieren sich

Die Journalistin Anja Röhl, selbst ein ehemaliges Verschickungskind, hat zum Thema nicht nur publiziert, sondern auch das sichtbare und vielleicht streitbare Forum geschaffen: „Aufarbeitung und Erforschung von Kinderverschickung e.V.“

Dank einer Suchfunktion sind sogar gezielt Themen, Heime und Träger auffindbar. Im November 2021 fand bereits der dritte Kongress „Das Elend der Verschickungskinder“ statt. Auch viele Medien griffen das Thema auf. So war im Juni/Juli 2023 in der ARD ( Sendetermin und Mediathek) der Dokumentarfilm „Verschickungskinder – Missbrauch und Gewalt bei Kinderkuren“ der Journalistin Lena Gilhaus zu sehen. Sie hat zu dem Thema auch ein Buch verfasst: „Verschickungskinder. Eine verdrängte Geschichte“.

Ob in der Rubrik „Zeugnis ablegen“ auf der Website verschickungsheime.de oder angesichts der Erinnerungen Betroffener und Recherchen in den Medien: Die Rezeption von Erfahrungsberichten einstiger Verschickungskinder erfordert starke Nerven. 

Pädagogik der Grausamkeit

Es gab in einigen Heimen „Erziehungsmethoden“, die zum Teil auf NS-Ideologie beruhten und von deren Geistesverwandten oder von unerfahrenem, kritiklosem Personal mehr oder minder drastisch angewandt wurden.

  • Die Kinder wurde gezwungen, schlechte oder als eklig empfundene Speisen und sogar ihr Erbrochenes zu essen.
  • Während der Schlafzeiten herrschte Toilettenverbot.
  • Wenn Kinder wegen absurder Verbote oder seelischer Nöte das Bett einnässten oder irgendwelche anderen Schwächen zeigten, wurde sie gedemütigt, bloßgestellt und zum Mobbingopfer gemacht. Es wird sogar von Folter berichtet: Eintauchen des Kopfes in kaltes Wasser und Verletzen der Genitalien.
  • Zu den Strafmaßnahmen gehörten physische Gewalt, aber auch Isolieren und andere seelische Grausamkeiten.
  • Einige Kinder wurden sexuell missbraucht.
  • No way out: Postalische Hilferufe an Eltern liefen durch konsequente Zensur oder vorformulierte Jubelbriefe ins Leere.

Es gab auch Todesfälle. Kinder starben, weil die Aufsicht fehlte

Von den Torturen ahnten Eltern nichts und kritische Nachfragen waren in der damaligen Zeit nicht üblich. Viele Opfer haben schwerste psychische Schäden erlitten und leiden bis heute darunter. Die Aufarbeitung gestaltet sich schwierig, da die meisten Heime aufgelöst und zahlreiche Betreiber und Mitarbeiter verstorben sind, ohne je Rechenschaft ablegen zu müssen.

In Gilhaus‘ Dokumentarfilm wird deutlich, dass heutige Vertreter der Institutionen, zum Beispiel die Thuiner Franziskanerinnen oder die DAK, zunächst leugnen, durch journalistischen Druck, Zeugenaussagen und Bekanntwerden von immer mehr Opfern aber zuweilen einlenken und bedauern. Die DAK hat mittlerweile selbst eine Studie in Auftrag gegeben. Auch die Franziskanerinnen sind nach einer eigenen Untersuchung zum Thema ansprechbar.

Die Katze sucht das Weite

Me too – ich auch. Bei der Beschäftigung mit dem Thema kamen auch bei der Autorin dieses Beitrags Erinnerungen an einen mehrwöchigen Aufenthalt im Allgäu in den Sechzigerjahren zurück. Manche sind vage, manche messerscharf. Fotos gibt es natürlich nicht, nur die Bilder im Kopf. Mein Bericht im Forum der Verschickungskinder:

Man stelle sich eine für ihr Alter zu kleine, introvertierte Elfjährige vor. Nach einer Bauch-OP qualifizierte ich mich für eine mehrwöchige Kur auf einem zum Kinderheim umfunktionierten Bauernhof bei Bühl am Alpsee. Konnte nicht schlimmer sein als daheim, Stress statt Geborgenheit war ich gewohnt. Allerdings erhielt ich beim ersten Beisammensein im Esssaal auf kommende Zwänge einen Vorgeschmack. Im wahrsten Sinne des Wortes:

Die „gute Bauernmilch“ zur Begrüßung war, wie die „Betreuerin“ durchaus zugab, verdorben. Die Devise lautete nicht etwa Wegschütten, sondern: „Die wird jetzt trotzdem getrunken“. Keine durfte aufstehen, bevor nicht alle ihre Tasse geleert hatten. Was dann auch alle taten außer mir. Ich war eine „brave“ Esserin, aber ich trank keine Milch, geschweige denn eine mit Stich. 

Zum Glück war ich alt genug, um eine Art Strategie zu entwickeln. Nach einer Stunde Kinderkur ahnte ich: Um hier einigermaßen unbeschadet durchzukommen, musste ich unter dem Radar fliegen, mir was einfallen lassen und die Nerven behalten. In diesem Fall kippte ich blitzschnell meine Milch zurück in die Kanne, während die Tante kurz abgelenkt war. Selbstverständlich haben auch Kindergruppen eine soziale Dynamik, die im Übrigen gerne von den Erzieherinnen ausgenutzt wurde. Ein Mädchen wollte petzen, wurde jedoch durch die Blicke aller anderen eiskalt gestoppt. Sie wollten lieber endlich raus.

Speisen verschwinden lassen wurde meine Paradedisziplin, denn auch in den nächsten Wochen herrschte Esspflicht. Zum Glück wurden während meiner Kinderkur keine Foltermethoden wie der Zwang, Erbrochenes wieder zu essen, angewendet. Aber weil nach kurzer Zeit fast alle Kinder ihr Essen ohnehin nicht mehr auf normale Weise ausschieden – ich vermute aus heutiger Sicht Unverträglichkeiten in Abwechslung mit Magen-Darm-Viren – wollte ich besonders vorsichtig sein. Ich erinnere mich gut, wie ich ein fettes Würstchen von suspekter Konsistenz nicht in den Mund, sondern heimlich in die Hosentasche beförderte. Als ich es später draußen der Hofkatze anbot, ergriff diese nach kurzem Schnuppern entsetzt die Flucht. 

Unsere „Tanten“ waren nicht wirklich bösartig, aber zumindest ziemlich manipulativ. So überredete mich eine, die Unterhose mit den Fäkalien der an Verdauungsstörungen – was sonst – erkrankten Zimmergenossin von Hand auszuwaschen: „Das machst du doch sicher für deine Freundin.“ Ich machte es. Leider unvergesslich.

Post an die Eltern hielt ich für sinnlos, da ganz offen zensiert wurde. Die Betreuerin verlas einen schwelgerischen Brief mit schönsten Schilderungen als Vorlage. „So macht ihr das.“

An Zwänge, Ekel und körperliche Nöte des überforderten Kindes erinnert man sich leider besser als an die Schönheit der Allgäuer Landschaft. Nach dem Mittagessen war Bettruhe angesagt, was bei aufgekratzten Vorpubertären absurd war und offenbar dazu diente, sie eine Zeitlang aus dem Weg zu schaffen. Wir lagen Bett an Bett in einem kleinen Zimmer, keine tat ein Auge zu, doch es herrschte strenges Sprechverbot. Erstaunlicherweise hatten die „Tanten“ offenbar Riesenohren, und jedem noch so zarten Flüstern folgte die übliche Strafe: endlos lange im Nachthemd an der Wand stehen. Natürlich musste man während dieser pädagogischen Meisterleistung bald dringend zur Toilette, was allerdings auch verboten war. 

Die Fremdbestimmung elementarer körperlicher Bedürfnisse war sicher auch ein Grund für die Verdauungsprobleme als stetiges Begleitprogramm. Dass die Kinder nicht zunahmen, konnte auch die Fütterung mit Unmengen von Marmeladenbroten nicht verhindern. Als mich kurz vor „Kur“-Ende doch noch der Durchfall erwischte, kam ich in ein Isolationszimmer samt Rausgeh- und Besuchsverbot. Was konnte man in dieser Einzelhaft noch verbieten? Ganz einfach: alles. Inklusive das Lesen, denn an die Decke starren förderte nach Meinung der jungen, unerfahrenen Erzieherin die Gesundheit. Um nicht völlig irre zu werden, bat ich meine Essenlieferantin um ein Buch. Hanni und Nanni, der Räuber Hotzenplotz, egal was. Allerdings platzte auch die Betreuerin hin und wieder ins Krankenzimmer – ich musste mein Buch jedes Mal unter die Decke retten, es war nervenaufreibend. Ich hielt das Isolationsexperiment nicht mehr aus. Also erklärte ich mich für gesund, obwohl ich es nicht war. Der Deal: „Dann musst du aber auch unsere große Wanderung mitmachen.“ So schleppte ich mich vollkommen dehydriert und mit schweren Bauchkrämpfen einen Tag lang durch die Allgäuer Sommerhitze. Ich habe seither nie wieder solchen Durst erlitten. In meiner Not ließ ich mich zurückfallen, um heimlich aus einem Bach zu trinken.

Habe ich psychische Schäden davongetragen? Keine Ahnung, aber zu einem Grundvertrauen hat es sicher nicht beigetragen.

Es bleiben vor allem einige Fragen: Wie konnten Menschen, die Macht über Schutzbefohlene haben, so viel Gleichgültigkeit und Empathielosigkeit besitzen? Wieso gab es keine Kontrolle? Und ist es heute wirklich eine andere Zeit? Angst vor dem Altenheim? Irgendwie schon.

2 Kommentare

Oh weh, das mag man als nicht Betroffene gar nicht lesen! Ein guter Anstoß, sich auch heute genau anzusehen, was Kinder und Enkel so alles in ihrem – vielleicht sogar wohlmeinenden – Umfeld so alles erleben!

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