Kriegsenkel – Einsichten in ein hässliches Erbe

Hört das denn nie auf? Der aktuelle Krieg in Europa bringt uns Schrecken nahe, von denen wir uns längst entfernt glaubten. Aber war das Leid der großen Kriege des vergangenen Jahrhunderts in unseren Familien wirklich so weit weg? War es nicht. Denn die Nachkriegsgenerationen, die mit dem Leben in Frieden und Wohlstand, sind auch Kriegsenkel, also die Kinder von Kriegskindern. Und das kann so einiges erklären.

Viele Menschen der Generationen Boomer und X sind bisher mit Problemen durchs Dasein gegangen, die sie oft für ihr individuelles Schicksal halten: diffuse Ängste, psychosomatische Störungen, sogar Depression. Gleichzeitig ergaben Befragungen typische Antworten in Bezug auf ihre Eltern. Emotionale Fremdheit, wenig Körperkontakt, ausgeprägte Risikoscheu, Sparsamkeit und Leistungsorientierung waren Verhaltensweisen, mit denen der Nachwuchs konfrontiert wurde.

Kriegsenkel

Millionen dieser Eltern hatten im zweiten Weltkrieg als Kind oder Jugendliche(r) Schrecken, Leid und Traumata erfahren: Verschickung ins Ausland, Flucht aus dem Osten, Vergewaltigung durch einmarschierende Soldaten, Todesangst in Bombennächten, Verlust eines oder beider Elternteile. Einige waren vom Leid ihrer Eltern an der Front oder in Lagern, andere von der Verstrickung ihrer Eltern in den Nationalsozialismus betroffen.

Von Generation zu Generation

Wir, die wir das nicht selbst erlebten, vermögen es uns kaum vorzustellen. Wie geht ein (junger) Mensch damit um? Wie sich herausstellte, wurden die grausamen Erfahrungen nach dem Krieg seelisch verdrängt und verkapselt. Doch wie wir heute wissen, ist die Nichtaufarbeitung nicht gesund und kann sich fatalerweise fortsetzen. Der Altersforscher Hartmut Radebold hat dafür folgenden Begriff geprägt:

transgenerationale Weitergabe.

Meist unbewusst wurden seelische Belastungen durch die Kriegserfahrungen an die Folgegeneration übertragen. Das kann so aussehen: Man hat Ängste, die man sich nicht erklären kann und für die es eigentlich keinen Anlass gibt. Man ist emotional verunsichert und hat Probleme in Beziehungen oder im sozialen Umfeld. Man hat körperliche Beschwerden, die nicht organisch erklärbar sind. Man fällt in emotionale Tiefen. Das ganze Leben ist – trotz Leistung und Erfolg – nicht zufriedenstellend oder einfach kontinuierlich anstrengend.

Und was jetzt? Die Journalistin Sabine Bode hat sich intensiv mit dem Thema Kriegsenkel beschäftigt. Vielen Betroffenen hilft es, aus Bodes 2013 erschienen Buch Kriegsenkel. Die Erben der vergessenen Generation oder weiteren Sach- und Belletristikpublikationen erste Erkenntnisse oder wahre „Aha-Erlebnisse“ für das eigene seelische Erfahren und dessen Verarbeitung zu gewinnen. Schon solche Erklärungsmöglichkeiten des bislang Unerklärlichen können heilsame Schritte sein.

Darüber hinaus informiert und vernetzt der 2010 gegründete Verein Kriegsenkel e. V. Verschiedene Veranstaltungen und Gesprächsrunden zum Thema klären auf und helfen im Austausch mit anderen Kriegsenkeln bei der Verarbeitung. Auf der Website des Vereins finden sich zahlreiche Literaturhinweise und Links zu wissenschaftlichen Arbeiten zum Thema.

Freilich kann das auch die Kriegsurenkel interessieren. Das sind die Kinder der Kriegsenkel, die sich in der dritten Generation von den emotionalen Kriegsfolgen betroffen fühlen.

Traumata zweier Kriege

Außerdem gibt es die Kriegsenkel des ersten Weltkrieges. Das sind ältere Menschen, die alte Eltern hatten, wie in meinem Fall: Meine Eltern waren Kinder des ersten Weltkrieges. Die Mutter wurde im ersten Krieg zur Vollwaise und erlebte als Erwachsene im zweiten Krieg Todesangst und Verlust der gesamten Habe im Bombenangriff. Der Vater erlebte Hungersnot im ersten sowie durch den zweiten Krieg Beinahetod, Gefangenschaft und Vertreibung. Diese beiden kriegsgeprägten Schicksale waren das emotionale Erbe für meine Schwester und mich, wenigstens ohne familiäre Schulderfahrung, weil sie in der Tat Opfer und nicht Täter der NS-Zeit waren.

Ich schließe mich der Aussage vieler Kriegs(ur)enkel an, die sich immer gefragt haben, wieso die Eltern so fremd sind und was das mit einem selbst zu tun haben könnte: Es lohnt, sich diese Verstrickungen und die möglichen Auswirkungen auf das eigene Leben, in dem wir vermeintlich nicht jammern dürfen, bewusst zu machen. Es ist erhellend und erleichtert.

3 Kommentare

Interessanter Aspekt, den Du da beleuchtest. Man sieht das Agieren der eigenen Eltern und Großeltern mit ganz anderen Augen, wenn man versucht, sich in das hineinzuversetzen, was sie erlebt haben. Vieles haben sie vielleicht niemals erzählt.
So ist mir in meiner Familie aufgefallen auf, dass schon die eigenen Kinder (in dem Fall mein Onkel) den ganz faktischen Lebenslauf der eigenen Eltern (mein Großvater) gar nicht so genau kennen und dann natürlich schon gleich nicht nachvollziehen können, was damals alles passiert sein mal.
Du gibst den Anstoß, mal ein bißchen genauer nachzuforschen. Danke, Rita!

Ich freu mich über Dein Interesse! Ich denke, ich selber hatte die Tragweite des Problems immer unterschätzt oder wider besseres Wissen auch ordentlich verdrängt. Aber je besser man diesen Familienschicksalserbekram einordnen kann, desto leichter gelingt es, ein Stück weit seinen Frieden damit zu machen.

Ich bin 5 Jahre nach dem zweiten Weltkrieg als erstes Kind geboren. Die Zeit war geprägt vom Wiederaufbau und gesellschaftlichen Umbruch. Meine Eltern hatten nicht viel Zeit für uns Kinder, an offen gezeigte Zuneigung kann ich mich nicht erinnern. Meine Mutter war sehr eingespannt mit Haushalt und Kinder erziehen, der Vater mit Geld verdienen (und ausgeben!) beschäftigt. Er war schwer traumatisiert vom Krieg, was jedoch keiner wahrhaben wollte und auch niemand erkannte. Ein Tabuthema halt. Es ging vorrangig darum, welche Familie hat nun den ersten Kühlschrank, die erste Waschmaschine oder ein Auto. Für uns Kinder blieb wenig Zeit. Wir wuchsen halt so nebenher auf. Ich hätte mir schon etwas mehr Verständnis für meine Belange und auch die meiner Schwester gewünscht, aber in Anbetracht der Dinge, die meine Eltern im Krieg erleben mussten, ist das im Nachhinein eher nachvollziehbar. Danke für diesen Artikel, der mich nochmals einen anderen Blick auf diese Zeit werfen lässt.

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