Stille Nacht – und zwar nicht nur an Weihnachten – wär’ schön. Und ein etwas weniger lauter Tag wäre auch nicht schlecht. Man fragt sich, wieso die Verkehrsnachrichten eigentlich von dieser hektischen Musik unterlegt sein müssen. Um den Stau ein bisschen peppiger zu machen? Und die hochfrequente Turbo-Heckenschere des Nachbarn würde man gerne – eingewickelt in das zugehörige liberale Gesetzeswerk namens 32. BImSchV (Geräte- und Maschinenlärmschutzverordnung) – auf den Mond schießen. So empfinden viele Menschen, denen Lärm auf den Wecker geht. Und zwar je älter, desto Wecker.
Als Kind haben wir gebrüllt und getrommelt. Als Teenager konnten wir bis zur Ohnmacht neben Discoboxen abhotten. Dann haben wir eine Weile Lärm mit Leben gleichgesetzt. Doch irgendwann war Lärm für uns eben nur noch Lärm. Warum eigentlich?
Lärm ist immer Lärm
Es ist medizinisch nachgewiesen, dass der Organismus sich objektiv nicht an Lärm gewöhnen kann. Vegetative Auswirkungen von Geräuschen beispielsweise auf den Blutdruck sind unabhängig davon, ob der Hörer sie bewusst wahrnimmt oder nicht. Vielleicht hört man mit den Jahren auf, sich vorzumachen, man könne Lärm ausblenden. Unser Lärmempfinden ist sozusagen vernünftig geworden. Lärmverursacher handeln außerdem übergriffig. Sie dringen in unser Leben ein. Und das meist wiederholt. Das könnte man höchstens tolerieren, wenn man dem Heckenscherenbenutzer in leidenschaftlicher Liebe oder zumindest herzlicher Freundschaft zugetan ist. Andernfalls – genau – ab Richtung Mond mit ihm.
Dauerberieselung statt Stille
Dabei ist es nicht allein der stressige, gesundheitsschädliche Spitzen- und Dauerlärm, der uns zusetzt. Der kanadische Komponist und Klangforscher Raymond Murray Schafer hat die akustischen Welten, von denen Menschen umgeben sind, untersucht. Zu diesen sogenannten Soundscapes gehören beispielsweise die Klangbilder einer Stadt, aber auch die designten Soundteppiche von Einkaufszentren. Denen setzt man uns aus, weil wir dann angeblich mehr kaufen. Genau wie Kühe, die mit Musik angeblich mehr Milch geben. Und zuhause geht es weiter. Kaum daheim, stellen wir Musik oder Fernseher an. Wir meinen offenbar nicht zu ertragen, was wir dringend bräuchten: Stille.
Stille als Prävention und Therapie
Studien zeigen: Stille ist gesund für Körper und Gehirn. Wer sich regelmäßig eine Auszeit zum stillen Meditieren – zum Beispiel Achtsamkeitstraining – nimmt, wird geistig fitter. Wiederholte Stille dient auch der psychischen Gesundheit. Bei einer Studie zu den Auswirkungen von Musik auf Herz, Gehirn und Atmung fand man heraus, was noch beruhigender war als die allerentspannendste Entspannungsmusik: die zwei Minuten Pause. Gewissermaßen der wissenschaftliche Beleg für Wilhelms Buschs Erkenntnis: „Musik wird oft nicht schön gefunden, weil sie stets mit Geräusch verbunden.“ So gesehen dient auch das legendäre Werk 4’33“ des amerikanischen Komponisten John Cage der Gesundheit seiner Hörer (hätten die sich nur nicht so darüber echauffiert). Während der vier Minuten und 33 Sekunden Spieldauer ist in diesem Musikstück kein Ton zu hören außer den Umweltgeräuschen im Konzertsaal.
Angst vor Stille
Denn auch John Cages Stille war nicht völlig still. Hier wird deutlich, dass wir selten mit einer wirklich totalen Stille konfrontiert werden. Das akustische Nichts wie etwa in einem isolierten schalltoten Raum kann Menschen Angst machen oder gar die Orientierung stören. Obwohl dies nicht der realen Stille entspricht, fühlen sich manche Stille-Phobiker wohler, wenn im Hintergrund leise Meeres- oder Waldgeräusche abgespielt werden. Wie still auch immer – Hauptsache, man entkommt regelmäßig dem Lärm. So dient es bereits der Erholung, öfter aus der intensiven oder andauernden Geräuschkulisse heraus- und in einen „normal“ stillen Ort hineinzutreten, und sei es nur das „stille Örtchen“.
Orte der Stille
Es gibt Anregungen, Stille in der Stadt zu finden. Dort kann man beispielsweise in einer Kirche oder Bibliothek einen Rückzugsgort entdecken. In öffentlichen Einrichtungen gibt es manchmal einen „Raum der Stille“. In den eigenen vier Wänden wiederum dürfen Handy, Musikanlage und Fernseher ab und zu schweigen. Und falls Sie Tim Parks‘ Roman „Stille“ noch nicht gelesen haben – tun Sie dies ohne akustische Ablenkung … Wenn Sie der Stille etwas nachhelfen möchten, gibt es eine reiche Auswahl an Ohrenstöpsel – in Schläfer-, Musiker- und Heimwerkerqualität.
Geistesblitz in der Yogastunde
Der äußeren Stille kann die innere folgen. Neben Beruhigung und psychische Stärkung kann die Stille noch mehr mit sich bringen: gesteigerte Kreativität und Geistesblitze aus einem Gehirn im Ruhezustand („Default Mode Network“ nennt es die Hirnforschung). So kann es sein, dass man stundenlang über ein Problem nachgrübelt, doch in der mucksmäuschenstillen Entspannungsphase der Yoga-Stunde kommt sie von selbst: des Rätsels Lösung.