Lieber Brief!
Weißt Du, was mir passiert ist? Aus einer etwas lang geratenen Geburtstagskarte ist ein Briefwechsel geworden. Handgeschrieben auf schönem Papier, mit Briefmarke und der stillen Hoffnung, dass die Post abgeht. Wobei, ein wenig Verspätung wäre auch nicht schlimm. Du bist ja keine Depesche, sondern, wie es sich herausstellt, ein Vergnügen.
Das Befremdliche ist, dass man trotz Digitalisierung viele formelle Briefe im Kasten findet. Papier ist rechtssicher. Amtlich, dienstlich, vertraglich, „verbrieft“ eben. Aber private Konversation?
Die läuft heute so: schnell hingetippte Zurufe, von der Rechtschreibkontrolle gerade gerückt per Messenger-App, SMS, optional diktiert oder als Sprachnachricht oder, wenn’s mal wieder länger dauert, gleich Telefon und Videocall. Die gute alte E-Mail kommt Dir zwar nahe, aber …
Lieber klassischer handgeschriebener Brief, Dein Geheimnis, um nicht zu sagen Briefgeheimnis, ist doch:
Du verlangst vom Absender Konzentration (keine Löschtaste, längerer Text), etwas Selbstbewusstsein (wer schreibt, der bleibt, selbst wenn keine spätere Veröffentlichung aufgrund literarischer Höhenflüge droht) und Zeit (kein Tippen, kein Diktieren, kein Steno).
Mit Dir also, lieber Brief, drückt man Engagement aus: Papier aussuchen (es muss nicht Büttenpapier mit Wasserzeichen sein, kann aber), Handschrift disziplinieren, eintüten, frankieren, zur Post bringen …
So gesehen bist Du zwar nicht immer ein Liebesbrief, aber stets ein Wertschätzungsbrief.
Es gibt auch Droh- und Hassbriefe? Anderes Thema. Aber wie schnell geht das negative Kommentieren im Internet! Hate Speech und Belehrungen haut keiner so schnell als Brief raus, selbst wenn die Postadresse leicht herauszufinden ist.
Okay, Du stellst Herausforderungen: ein bisschen Gedanken sortieren und auf Rechtschreibung achten. Und Emotion oder Ironie muss sich aus dem Text ergeben so ganz ohne Emojis, aber man kann das Smiley-Zeug ja auch schreiben, zwinker, zwinker.
Außerdem, lieber Brief, konnte man auch vor Facebook schon Freunde finden:
Der Verein Deutsche Sprache vermittelt auf seiner Website Brieffreunde in und außerhalb Deutschlands, muss aber, man glaubt es kaum, wegen der hohen Nachfrage gerade damit pausieren.
Der Bedarf nach Dir ist offenbar da. Man kann Deine Todfeindin, das Internet auch nutzen, um professionelle Schreiber wie im Mittelalter zu finden: „Ich schreibe den Brief für Sie“, inklusive Liebesbriefe. Ist vielleicht nicht ganz Sinn der Sache. Ich höre Dich geradezu rascheln vor Unbehagen.
Immerhin bist Du der Menschheit so wertvoll, dass sie Dir einen eigenen Tag (vielleicht als Anlass) kreiert hat: den Welttag des Briefschreibens am 1. September.
Trotz der Ehre darf man sich fragen: Bist Du nun cool oder cringe? Wenn irgendetwas von gestern (sorry) wieder auftaucht, fällt die kritische Gesellschaft ihr Urteil. Heißt es Vintage, ist alt ein Qualitätsmerkmal wie etwa beim Wein oder einem Style. Gilt es jedoch als altmodisch, dann Gott bewahre.
Das muss man schon selber rausfinden. Doch wenn sich die Briefschreiber in ihrem positiven Urteil einig sind, kann es losgehen, so unbeschwert wie Luftpost.
Da fallen mir die inneren Freudensprünge ein, jedes Mal, wenn ich Dich während meines Auslandstudiums im Postfach meines Wohnheims fand, einen zartblauen Hauch von Papier, in Minischrift eng beschrieben wegen der Luftbriefkosten.
Apropos Ausland, meine kalifornische Freundin hat mit dem Erscheinen von Facebook ihre jährlichen Weihnachtsbrief-Berichte eingestellt. Jetzt werden Info-Häppchen gepostet, die halbe Welt liest mit und nichts Genaues weiß man nicht.
Am besten ich schick Dich mal zu ihr. Es wird ihr Freude machen. Da geb ich Brief und Siegel drauf.
Es grüßt Dich Deine Briefschreiberin
P.S.: Bitte leite diese Zeilen weiter an die Postkarte, sonst ist die Kleine beleidigt.
5 Kommentare
Rita, ein Meisterstück voll Augenzwinkern!!! Ich zücke den guten alten Karoblock mangels qualitätvoller Alternativen und lege los – immer mit ein bisschen Besorgnis, mich mit peinlichen Rechtschreibfehlern ohne Autokorrektur zu outen!
… eine winzige Kleinigkeit gehört noch zum privaten Brief – die FAZ hat es gestern auch wieder aufgegriffen: Die Briefmarke! Kein Strichcode, Zahlen-Wurm oder die Standardblume – in der großartigen Produktvielfalt der Philatelie schwelgt der Autor und ordert sie ganz schnöde online …,
… und nicht zu vergessen, auch ganz kleine Beträge zu ordern, um sich die häufigen Portoerhöhungen zurecht kleben zu können …
Welch wunderbare Hommage an Brief und Postkarte! Ich habe noch Briefe aus meiner Jugendzeit, die teilweise sehr aufschlussreich sind. Insbesondere die meiner Mutter, die sich viele Sorgen machte, als ich auszog, um mein eigenes Leben zu leben. Danke lieber Brief!
Liebe Anna, gerne! Ja, in mir steckt viel vom Leben drin. Manchmal gibt es vor allem zwischen den Zeilen einiges zu entdecken …