Ungewissheit satt – wie soll ich das bloß verdauen?

Der Mensch muss seit jeher mit Ungewissheit leben, jetzt lebt er auch mit einer Pandemie. Beides zusammen ist extrem anstrengend. Maske schlecht, Maske gut. Impfstoff möglich oder auch nicht (siehe HIV). Eindämmung bis Herbst oder zweite Welle. Sars-CoV-2 könnte besiegbar sein oder zu Sars-CoV-x mutieren. Schließen oder öffnen? Bleibe ich gesund? Sind meine Einkünfte sicher? Halten bewährte Systeme? Wie kann die Krise noch ausarten? Und: Wie komme ich mit so viel Ungewissheit zurecht? Denn Grübeln und Sorgen sind ungesund.

Auch wer dachte, er hätte in seinem Leben ein paar Wahrheiten gefunden (unter anderem dass die Krise in ein paar Wochen vorbei ist), ist wieder schwer auf der Suche. Ob Normalo oder Experte, wer halbwegs bei Trost ist, muss zugeben, dass er angesichts Corona sehr wenig weiß. Oder wird uns gar etwas verborgen? Verschwörungstheorien und absurde Falschmeldungen schießen ins Kraut der sozialen Medien. Was und wem kann man glauben? Haben wir überhaupt noch ein Fünkchen Kontrolle über das, was uns passieren wird?

Ungewissheit

Nur eines wissen wir sicher: Jeder ist von den Auswirkungen der Pandemie betroffen. Aber gibt es für mich in der großen Ungewissheit vielleicht doch noch ein paar Gewissheiten?

Ich besitze ein Grundvertrauen

Ein ausgeprägtes Grundvertrauen kann nicht verkehrt sein. Das muss allerdings differenziert betrachtet werden. Denn manche Menschen sind von ihrer Unsterblichkeit offenbar überzeugter als andere, zum Beispiel Raucher, Raser und sogenannte Sensation Seekers, denen das normale Dasein Stress durch zu wenig Risiko bereitet. Grundvertrauen ist aber nicht zu verwechseln mit Leichtsinn oder Verdrängung. Es ist vielmehr eine gute Basis für Lebenskunst inmitten von Widrigkeiten. Angesichts unserer Endlichkeit ist die damit verbundene Ungewissheit eine Art Conditio humana, eine Bedingung des Menschsein, mit der ein Mensch leben können muss. Das übt er schon seit ein paar Jahrtausenden. Vielleicht hilft es, sich wie ein Mantra vorzusagen: Dein Grundvertrauen ist da, verlass‘ dich drauf.

Ich kann meine Seele stärken

Glauben heißt nicht wissen, kann aber psychisch sehr helfen. Dass Kirchen zwar immer leerer wurden, jetzt aber besonders laut an die verschlossenen Türen gepocht wurde, erstaunt eben nur die Säkularen, Agnostiker und Atheisten. In Krisen geben Religion und damit verbundene Gemeinschaftserlebnisse vielen Menschen den Halt, auf den sie vorher nicht so sehr angewiesen waren.

Vorsicht ist aber geboten bei Gläubigen, die alles zu wissen glauben. Wer die Verantwortung für sein Glück an eine höhere Macht delegiert, kann sich und andere gefährden. Von vielen religiösen Zusammenkünften auf der ganzen Welt konnte sich das Virus besonders gut verbreiten. Das zumindest weiß man schon mal.

Wir haben Psychotherapeuten, um Ängste besser zu bewältigen. Schließlich sollte man hier reichlich Krisenexpertise finden. Doch wenn nur noch zum Thema Virus gesprochen und gehandelt wird, besteht die Gefahr, dass psychische Krankheiten gegenüber den körperlichen zurücktreten. Dabei könnte gerade diese Problematik besonders wichtig werden, wenn die Pandemie ein noch unbekanntes Ausmaß an persönlichen Krisen verursacht. Wer mit seinen Sorgen und Ängsten nicht mehr zurechtkommt, sollte unbedingt professionelle Hilfe suchen. Eine bessere Versorgung steht dem oft leider im Weg. Mehr telefonische und videotelefonische Beratungsmöglichkeiten wären sehr wünschenswert.

Wann, wenn nicht jetzt: das Gespräch mit Familie und guten Freunden – auch telefonisch.

Körperliche Bewegung, Meditation und Achtsamkeitstraining gelten ebenfalls als gute Strategien, um mit Krisensituationen umzugehen.

Ich kann Informationen einholen

Manchmal bekommt man beim Grundrecht der Pressefreiheit den Eindruck, als mache diese nur den Journalisten Spaß. Man muss nicht gleich von Nordkorea sprechen, um klarzumachen, wie privilegiert wir sind. Wir dürfen uns schlau machen und wir haben die Möglichkeit, nicht nur eine Nachricht in nur einem Medium zu konsumieren. Fake news hin, Filterblase her: Gefragt ist mehr denn je die Medienkompetenz, also viele Information einholen, unterschiedliche Medien nutzen, Hintergründe entlarven sowie Qualität und Ziel der Nachricht einschätzen können. Wenn man kritisch und misstrauisch herangeht, um so besser. Jeder kann seinen Wissensstand selbst managen, um zum Beispiel in den sozialen Medien die Hoaxes als solche zu erkennen und Wutreden besser einzuordnen. Zum gekonnten Umgang mit den Medien gehört es übrigens auch, sich nicht rund um die Uhr Corona-Nachrichten psychisch zu belasten. Auch hier gilt eine Abstandsregel.

Ich verstehe: Vielfalt und Widersprüche gehören dazu

Manche verfolgen die Strategie, Ungewissheit mit Ignoranz zu bekämpfen. Klappt selten. Selbst wer sich nicht freiwillig darum kümmert oder überhaupt nicht informieren will, wird rund um die Uhr mit Nachrichten und Meinungen bombardiert. Das kann negative Gefühle von Trotz und Widerstand erzeugen: „Ach jeder sagt doch was anderes.“ „Heute dies, morgen das. Ich weiß gar nicht mehr, was ich glauben soll.“ „Ach jeden Abend diese Corona-Sendung, ich kann’s schon nicht mehr sehen.“ In Zeiten der Ungewissheit ist der Wunsch nach dem einen Verkünder der Wahrheit und der einen Gewissheit zwar verständlich, aber unrealistisch und psychologisch gesprochen ein Symptom emotionaler Schwäche.

In den sozialen Netzwerken und Messengerdiensten finden Verschwörungstheorien bei Anfälligen große Resonanz und willige Verbreitung. Die Inhalte haben stets zwei Botschaften: 1. Wir wissen, dass die „Mächtigen“ lügen und 2. Alle anderen sind dumm.

Als Anlass für die Verkündung der eigenen Schlauheit und Wahrheit wird gerne eine „entlarvte“ Widersprüchlichkeit“ genommen. Also unterschiedliche oder korrigierte Aussagen der öffentlich anerkannten Experten. Dabei wird übersehen, dass gute Wissenschaft gerade auf Widersprüchen beruht, da sie Aussagen nie für wahr, sondern nur für noch nicht widerlegt hält. Das muss dem Einforderer der „wirklichen Wahrheit“ geradezu als Skandal vorkommen.

Die Aufgabe der Politiker in einem demokratischen Rechtsstaat sollte es sein, auf dieser Basis zu entscheiden. In einer derart komplexen Situation wie der Corona-Krise müssen zudem die Ergebnisse verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen in die Einschätzung eingehen. Auch die Empfehlungen eines interdisziplinär aufgestellten Expertenrats der nationalen Akademie der Wissenschaften (Leopoldina) können nicht mit letztendlicher Sicherheit verraten, was zu tun ist.

Wir befinden uns in einer Situation, die in hohem Maß von Nichtwissen geprägt ist. Das zu akzeptieren fällt vielen Menschen sehr schwer. Und dennoch: Wir müssen es aushalten, nichts zu wissen.

Ich kann auch Plan B und C machen

Wer nichts weiß, kann schlecht entscheiden. Allerdings hat der Mensch seine Vorstellungskraft und kann sich unterschiedliche Szenarien für unterschiedliche Pläne ausdenken. So gewinnt er ein Stück Kontrolle über sein Leben zurück. Und sei es mit dem Entschluss, sich jetzt in die Technik der Videotelefonie einzuarbeiten, um die Enkel wiederzusehen. Wenn Ungewissheit die Zukunft bestimmt, kann es helfen, den Fokus auf die aktuelle Situation zu legen und zu tun, was man im Moment tun kann.

Ich lerne täglich dazu

Über das Virus wissen wir nicht viel, aber jeden Tag etwas mehr. Auch das kann trösten.

Ich halte mich an die Philosophen: Augen auf und durch

In diesem Sinne ist das berühmte Zitat des Philosophen Sokrates beim Wort zu nehmen wie noch nie: „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“ Sich des eigenen Nichtwissens bewusst zu sein, hielten die antiken Denker für Weisheit. Vielleicht schaffen wir so den Transfer von der Erkenntnis zur Emotion: In einer demokratischen Gesellschaft sollten wir keineswegs aufhören, uns Sorgen zu machen und uns kritisch zu informieren. Aber wenn ich mir die Unvermeidlichkeit meines Nichtwissens bewusst mache, kann ich Ungewissheit vielleicht gelassener ertragen.

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