Loslassen: Der schwere Weg ins Leichte

„Man müsste nochmal 20 sein …“ Als wir jung waren, nervten uns die Älteren mit Willy Schneiders Schlager und ihren tränenfeuchten Prösterchen aufs Gestern. Heute kommen wir selber ins Grübeln. Auch wir haben Wichtiges verloren, dem wir nun nachtrauern: das Aussehen, die Power und die Gesundheit des jüngeren Selbst, Status und Beruf sowie die Hoffnung auf Verwirklichung bestimmter Lebensträume. Leider oft auch das Zusammensein mit geliebten Menschen.

Zum Cool Aging gehört die Kunst des Abschiednehmens: Vergangenes und Unveränderbares loslassen, damit in der wertvollen restlichen Lebenszeit neue Kraft und Zufriedenheit einziehen können. Leitmotiv dieses schweren Prozesses kann sein:

„Auch in meinem Alter und in meiner Situation lohnt es sich, etwas Neues zu machen und zu erleben.“

Festhalten kann krank machen

Dauernd diese Umbrüche, und dabei will man es gerade jetzt ruhig, sicher und wie gehabt! Immer mehr immer widerwilliger loslassen müssen ist doppelt schwer. Doch wer zu lange in Trauer und Bitterkeit über Verluste und Verletzungen verharrt, kann erheblichen seelischen und körperlichen Schaden nehmen.

Schmerzen ohne organische Ursache, gestörter Schlaf, cholerisches Verhalten, Panikanfälle, Depressionen, Sucht – dahinter kann die Unfähigkeit loszulassen stecken. Kein Wunder: Isoliert in der seelischen Verstrickung gelangt man weder an das gesundheitsfördernde Potential sozialer Einbindung noch an sinnstiftende neue Ziele.

Loslassen ist ein Prozess der Anpassung, an dessen Ende die Akzeptanz steht

Aber wie geht man das Loslassen an? Eine Anregung gibt das Zitat des römischen Philosophen Seneca: „Ducunt fata volentem, nolentem trahunt.“ Den Willigen führen die Schicksalsläufte, den, der sich weigert, schleifen sie hinter sich her.

Das Stichwort ist also Wollen. Der Willige nimmt seine Widerfahrnisse an. Als Schicksal bezeichnen wir in der Regel das, was wir nicht ändern können. Aber wie wir damit umgehen, darauf können wir Einfluss nehmen. Das kommt dem frommen Wunsch, das „Schicksal selbst in die Hand zu nehmen“ wohl am nächsten. Ich kann meine Jugend nicht zurückzaubern, aber ich kann entscheiden, wie ich den Verlust bewältige.

Nun hat die emotionale Befindlichkeit des Menschen ein Eigenleben, das sich nicht beliebig steuern oder abstellen lässt. Das gilt bei existentiellen Erlebnissen und tiefen seelischen Wunden umso mehr. Wie kann das Akzeptieren-Wollen dann funktionieren?

Man muss es über das Denken probieren

Formulierte Sätze zum Loslassen müssen gedacht, gesagt, aber auch gelebt werden, bis die Empfindungen gewissermaßen nachziehen. Loslassen wird leichter, wenn die Gedanken, die den Prozess unterstützen, diejenigen Gedanken verdrängen, die den Prozess verhindern.

Gedanken wie diese zementieren das Festhalten:
  • Wieso ist das mir passiert?
  • Warum habe ich das bloß gemacht?
  • Warum habe ich das bloß nicht gemacht?
  • Wieso haben meine Eltern/meine Kinder/meine Kollegen mir das angetan?
  • Warum ist das Schicksal so gemein zu mir?
  • Wieso ist mein Leben hier so und dort so verlaufen?

Im Kreisverkehr all dieser grüblerischen und hadernden Fragen zu negativen Erlebnissen oder nicht wahrgenommenen Chancen muss man große Stoppschilder setzen – mit Ausfahrmöglichkeit. Die liest man sich am besten selber vor.

Gedanken, die beim Loslassen helfen können:
  • Ich bin bereit, die Schädlichkeit meines Festhaltens zu erkennen und loszulassen.
  • Ich bin bereit, die Vergangenheit zu akzeptieren.
  • Ich bin bereit, meine Trauer loszulassen.
  • Ich bin bereit, meine Wut loszulassen.
  • Ich bin bereit, meine Selbstvorwürfe loszulassen.

Voraussetzung sind die Einsicht, etwas ändern zu müssen, und das Vertrauen, dass nach dem Loslassen etwas Besseres folgt.

Nur sind die Kopfentscheidungen leichter gesagt als getan, wenn der Bauch doch noch unbedingt festhalten will. Seine „Argumente“ sind ebenfalls facettenreich:

  • Früher war einfach alles besser.
  • Den Absprung schaffe ich ja doch nicht.
  • Ich bleibe sicherheitshalber in meiner Misere, sie ist zwar schlecht, aber vertraut.
  • Ich kann mich nicht mehr an andere Umgebungen und Mitmenschen anpassen.
  • Das gehört einfach zu mir, wenn ich das aufgebe, verliere ich mich selbst.
  • Ich will nicht riskieren, meinen geliebten Menschen zu vergessen.
  • Ich lasse jemanden im Stich, wenn ich mich nicht endlos aufopfere.
  • Das war schon immer so, so bin ich nun mal, basta.
  • Was soll denn da noch kommen? Ist doch alles sinnlos.
  • Für einen Neuanfang bin ich einfach zu alt.
7 Schritte, um Ketten zu sprengen

Je mehr Ängste und Schmerzen er verursacht, desto mehr Mut und Kraft erfordert der Abschied. Dafür klingt der Begriff Loslassen eigentlich zu einfach. Ketten sprengen trifft es wohl eher. Doch es gibt Mittel und Wege, die das Aufbrechen innerer Fesseln leichter machen können:

Loslassen
1. Nichts überstürzen

Zunächst ist es wichtig, das Loslassen als allmählichen emotionalen Prozess zu verstehen, sich Zeit geben und nicht radikal vorzugehen. Denn mit der gedanklichen Bereitschaft loszulassen, muss auch das entsprechende Verhalten einhergehen. Wenn man mehrere Abschiede meistern oder sehr tiefe Einschnitte überwinden muss, kann es nötig sein, sich dabei psychologische Hilfe zu holen.

Wohl dem, der auch bei Familie oder Freunden Halt und Rat findet. Um in der Gemeinschaft neue Kraft und Zukunftsvisionen zu erlangen, ist es wichtig zu erkennen, wer einem dabei guttut. „Freunde“, die sich zurückgezogen haben, als man in eine Krise geraten war, gehören vielleicht nicht dazu.

2. Natur und Bewegung

Beim Loslassen holen sich manche Menschen in der Natur und in der Bewegung viel Kraft zurück. Wer die Möglichkeit hat, sollte zum Beispiel die positive Wirkung des Waldes auf die menschliche Seele erspüren. Nach Schicksalsschlägen können tierliebe Menschen einen Neuanfang finden, indem sie ein Haustier anschaffen. Allerdings muss man auch hier gewisse Grenzen akzeptieren, um Tiere nicht als Kind- oder Freunde-Ersatz zu missbrauchen.

3. Achtsamkeit

Um von schädlichen Gedankenwelten wegzukommen, kann das Lernen und Ausüben von Achtsamkeit nützlich sein. Im Moment zu leben und sich das Erlebte mit allen Sinnen bewusst zu machen, ohne zu bewerten, kann den Aufgewühlten erden und beruhigen. Der Achtsame lernt, im Hier und Jetzt zu sein, und hat damit auch die Möglichkeit, mit Vergangenem besser zurechtzukommen.

4. Spiritualität

Es ist nicht ungewöhnlich, dass nach Lebenseinschnitten die Spiritualität wieder eine größere Rolle spielt. Das können Trosterfahrungen in der Religion sein oder einfach eine geistige Auseinandersetzung mit dem Sinn des Lebens und stärkere Besinnung auf bestimmte Werte. So berichten viele Menschen, die schwierige Umbrüche bewältigen mussten, dass sie nun achtsamer auf das Leben sehen und so etwas wie eine neue Weisheit erlangt haben.

5. Vergleiche vermeiden

Es ist hilfreich, den eigenen Selbstwert zu erkennen und zu fühlen, ohne sich mit anderen zu vergleichen. „Hat der Andere mehr?“, „Hat die Andere es besser?“ sind Fragen, die einen immer wieder ins Bedauern und Trauern treiben. Es geht darum zu erfühlen, was für einen selbst richtig ist. Das kann heißen, Wunschträume endgültig zu begraben, um sich dann in der Realität besser zu fühlen.

6. Rituale

Mehr Stabilität und Zuversicht in einem Ablöseprozess kann man durch Rituale gewinnen. Bei einer gewohnten und angenehmen Tätigkeit, seien es der Spaziergang im Park, der Yogatermin oder das Singen im Chor, darf man sich geborgen und lebendig fühlen. In diesem Sinne wirken ja auch die großen gemeinschaftlichen Rituale des Übergangs wie das mit dem Wort Leichenschmaus scherzhaft benannte gemeinsame Essen nach einer Beerdigung.

7. Eigene Ressourcen nutzen

Zur Verarbeitung eines Abschieds können auch die Fähigkeiten genutzt werden, die in der eigenen Biografie vorhanden sind. Wer den Mut, die Lust und die Kraft dazu hat, kann sich Herausforderungen stellen. Die einen mögen ihre beruflichen und erlernten Tätigkeiten neu einsetzen, den anderen hilft es, sich in einem Ehrenamt einzubringen.

Auch in der eigenen Kreativität liegt ein großes Trostpotential. Dazu können Malen, Gestalten und viele andere Formen der kreativen Ausdrucksweise gehören. Einige Menschen können Abschiede besser verarbeiten, indem sie darüber schreiben. Das können ein Tagebuch mit Erlebnissen und Gefühlen sein oder Texte, die einem über die eigene Situation Klarheit verschaffen. Bei Verlusten kann es wichtig sein, einen Nachruf auf den oder das, was losgelassen werden muss, zu verfassen.

Im Nachruf steckt die Quintessenz des guten Abschiednehmens: die Vergangenheit noch einmal Revue passieren zu lassen, sie schließlich zu würdigen und mit Dank zurückzulassen.

Abschiedskompetenz durch Lebenserfahrung

Zum Glück haben ältere Menschen beim Loslassen einen großen Vorteil: ihre Lebenserfahrung. Wer schon Abschiede aus anderen Lebensphasen hinter sich hat, weiß im Prinzip, dass man „Befreiungen wider Willen“ übersteht. Sie haben es erlebt, dass das Loslassen und Akzeptieren der Vergangenheit notwendig sind, um wieder in der Gegenwart anzukommen und die Kontrolle über sein aktuelles Erleben zurückzugewinnen. Jüngere Menschen, die in Veränderungs- und Trennungssituationen gezwungen sind, sind oft erstaunt, wie sehr sie von der „Abschiedskompetenz“ ihrer Eltern und Großeltern lernen können.

Auch wenn Abschiede psychische Schwerstarbeit sind, kann es sein, dass man bestenfalls einen großen Schatz findet: innere Freiheit. Durch sie hindurch lässt sich das Licht am Horizont besser erkennen. Die beste Voraussetzung für eine leichtere Zukunft.

Loslassen

* Dieser Artikel gibt Einsichten, Tipps und Anregungen zu einem Thema der physischen und psychischen Gesundheit. Er ersetzt keinesfalls die Beratung und Therapie durch einen Arzt, Psychotherapeuten oder Psychiater.

English Version

Letting go: The hard way to the light

„You’d have to be 20 again…“ When we were young, the older ones got on our nerves with Willy Schneider’s song and their tear-stained glass-raising to yesterday. Today, this is thought-provoking for us. We too have lost important things, which we now mourn: the appearance, power and health of the younger self, status and profession as well as the hope of realizing certain dreams in life. Unfortunately often also the being together with loved ones.

Cool aging includes the art of saying goodbye: letting go of the past and the unchangeable, so that new strength and contentment can enter the valuable remaining time of life. The leitmotif of this difficult process can be:

„Even at my age and in my situation, it’s worth doing and experiencing something new.“

Clinging on can make you sick

All the time these upheavals, and at the same time you want it to be calm, safe and the same as before! Having to let go of more and more things reluctantly is twice as hard. But who remains too long in grief and bitterness over losses and injuries, can take considerable mental and physical damage.

Pain without organic cause, disturbed sleep, choleric behaviour, panic attacks, depression, addiction – behind all this can be the inability to let go. No wonder: Isolated in the mental entanglement, one neither reaches the health-promoting potential of social integration nor meaningful new goals.

Letting go is a process of adaptation, at the end of which there is acceptance

But how do you approach letting go? One suggestion is the quote from the Roman philosopher Seneca: „Ducunt fata volentem, nolentem trahunt.“ The one who is willing is led by the run of fate, the one who refuses is dragged behind them.

So the key word is wanting. The willing accepts his experiences. As a rule, we call fate that which we cannot change. But how we deal with it, we can influence. This comes closest to the pious desire to „take fate into our own hands“. I cannot conjure back my youth, but I can decide how to cope with the loss.

However, the emotional state of a person has a life of its own that cannot be controlled or stopped at will. This applies all the more to existential experiences and deep emotional wounds. How can acceptance then work?

You have to try it by thinking, saying and living

Formulated sentences for letting go must be thought, said, but also lived until the emotions follow, so to speak. Letting go becomes easier when the thoughts that support the process displace the thoughts that prevent the process.

Thoughts that cement the clinging:
  • Why did this happen to me?
  • Why did I do this?
  • Why didn’t I do this?
  • Why did my parents/my children/my colleagues do this to me?
  • Why is fate so mean to me?
  • Why did my life turn out this way?

In the roundabout of all these brooding and quarreling questions about negative experiences or missed opportunities, you have to put up big stop signs – with the possibility to exit. It is best to read them to yourself.

Thoughts that can help letting go:
  • I am ready to recognize the harmfulness of my clinging and let go.
  • I am ready to accept the past.
  • I am ready to let go of my grief.
  • I’m ready to let go of my anger.
  • I’m ready to let go of my self-reproach.

The prerequisites are the insight that something has to change and the confidence that something better will follow after letting go.

But the brain decisions are easier said than done, when the „gut“ still wants to hold on tight. Its „arguments“ are also multifaceted:

  • Everything used to be better.
  • I’m not going to make the jump after all.
  • To be on the safe side, I’ll stay in my misery, which is bad, but familiar.
  • I can no longer adapt to other environments or people.
  • It’s just part of me, and if I give that up I’ll lose myself.
  • I do not want to risk forgetting my beloved person.
  • I’m abandoning someone if I do not sacrifice myself endlessly.
  • That’s the way I always have been, that’s the way I am, period.
  • What more is there to come? There’s no point.
  • I’m too old to start over.
7 Steps to break chains

The more fear and pain it causes, the more courage and strength is needed to say goodbye. The term „letting go“ actually sounds too simple for that. Breaking chains is more appropriate. But there are ways and means that can make it easier to break open inner chains:

1. Not rushing anything

First of all, it is important to understand letting go as a gradual emotional process, giving yourself time and not taking a radical approach. For the mental readiness to let go must be accompanied by the corresponding behaviour. If one has to master several farewells or overcome very deep cuts, it may be necessary to get psychological help.

Blessed are those who find support and advice from family and friends. In order to gain new strength and visions for the future in the community, it is important to recognize who is good for you. „Friends“ who withdrew when you were in a crisis may not be among them.

2. Nature and exercise

When letting go, some people regain a lot of strength in nature and in physical activity. Those who have the opportunity should, for example, feel the positive effect of the forest on the human soul. After strokes of fate, animal-loving people can find a new beginning by acquiring a pet. However, one must also accept certain limits in order not to abuse animals as a substitute for children or friends.

3. Mindfulness

To get away from harmful thoughts, learning and practicing mindfulness can be useful. Living in the moment and becoming aware of what you are experiencing with all your senses, without judging, can ground and calm the agitated. The mindful person learns to be in the here and now and thus has the opportunity to cope better with the past.

4. Spirituality

It is not uncommon that after life cuts, spirituality plays a greater role again. This can be comforting experiences in religion or simply a spiritual examination of the meaning of life and a stronger reflection on certain values. Many people who have had to cope with difficult upheavals report that they are now more attentive to life and have attained something like a new wisdom.

5. Avoiding comparisons

It is helpful to recognize and feel your own self-esteem without comparing yourself with others. „Does the other person have more?“, „Does the other person have it better?“ are questions that always drive you to regret and mourning. It is about feeling what is right for yourself. That can mean burying pipe dreams for good, only to feel better in reality.

6. Rituals

More stability and confidence in a replacement process can be gained through rituals. During a habitual and pleasant activity, be it a walk in the park, a yoga session or singing in a choir, one can feel safe and alive. In this sense, the great communal rituals of transition also have the same effect as the communal meal after a funeral, which is jokingly referred to as a funeral feast.

7. Using own resources

In order to process a farewell, the skills available in one’s own biography can also be used. Those who have the courage, the desire and the strength to do so can face challenges. For some, it may be a chance to put their professional and learned activities to new use, for others it may help them to become involved in voluntary work.

There is also a great comforting potential in one’s own creativity. This can include painting, designing and many other forms of creative expression. Some people are better able to process farewells by writing about them. This can be a diary of experiences and feelings or texts that give you clarity about your own situation. In the case of losses, it can be important to write an obituary of what needs to be let go.

The obituary contains the quintessence of a good farewell: to review the past, finally to appreciate it and leave it behind with thanks.

Farewell competence through life experience

Fortunately, older people have a great advantage when letting go: their life experience. Anyone who has already experienced farewells from other phases of life knows in principle that one can survive „liberations against one’s will“. They have experienced that letting go and accepting the past are necessary to come back to the present and regain control over their current experience. Younger people who are forced into situations of change and separation are often surprised how much they can learn from the „farewell competence“ of their parents and grandparents.

Even if farewells are psychic hard work, it may be that at best one finds a great treasure: inner freedom. Through it the light on the horizon can be seen better. The best prerequisite for an easier future.

This article provides insights, tips and suggestions on a physical and mental health topic. It does not in any way replace consultation and therapy by a doctor, psychotherapist or psychiatrist.

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